74. Tief unten im Meer

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Betretenes Schweigen machte sich breit, als sie in den Thronsaal zurückkehrten. Die meisten Leute waren verschwunden, nur noch eine einstöckige Masse mit sporadisch kahlen Stellen war übriggeblieben und das Orakel hatte seine Drohung wahr gemacht. Die letzten drei zu verurteilenden Fischmenschen warteten noch immer in Reih und Glied und auch der Träger mit der Krone war noch immer in der Schwebe vor dem durchlöcherten Möbelstück. Mit zusammengebissenen Zähnen schwamm Adara schnurgerade durch den Saal ohne auch nur ein einziges nach links oder rechts zu sehen und nahm widerwillig auf dem überdimensionierten Sessel platz, dem es nun an einer komfortablen Rückenlehne mangelte. Marlene übernahm den Teil mit der Krönung. Fast schon ehrfürchtig nahm sie die tiefblaue Krone mit den unzähligen Zacken von deren Platz und überführte sie auf Adaras Kopf, die stur geradeaus schaute. Der Kissenträger schien sichtlich erleichtert darüber, endlich verduften zu können. Der Arme musste mittlerweile schon einen Stahlarm haben. Die rigorose Zeremonie war damit ziemlich glanzlos über die Bühne gelaufen. Marlene gesellte sich an ihre Seite und wollte wohl ihrer Stelle der beratenden Funktion schon alle Ehre machen, aber Adara brauchte sie nur anzuschauen und schon schloss sie ihren Mund wieder. „Hoheit, Ihr müsst nun über diese Leute richten", versuchte ein etwas untersetzter Mann mit einem deplatzierten Lächeln zu helfen, doch auch ihn bedachte Adara bloß mit einem vernichtenden Blick, sodass er sich eiligst aus der Nähe des Thrones entfernte. Adara seufzte. Eigentlich wollte sie gerade nichts anderes, als sich in ihrem Zimmer zu verkriechen und nie wieder rauskommen. „Was habt Ihr getan?", fragte sie lahm und stützte ihren Kopf auf ihren Arm. „Ach wisst Ihr was, ihr arbeitet einfach alle ein ganzes Jahr lang gemeinnützig und damit hat sich's. Keine Verbannung, keine Todesstrafe und kein Kerkererlebnis für niemanden. Und jetzt lasst mich alle in Ruhe." Damit rutschte sie wieder vom kalten Thron und durchquerte den Saal erneut ohne jemanden anzuschauen oder auf an sie gerichtete Worte zu reagieren. Nur Marlene folgte ihr. „Adara, ist alles in Ordnung?", fragte sie, als sie ihre jüngere Schwester eingeholt hatte. Adara schnaubte verächtlich. „Das hast du jetzt nicht wirklich gefragt", erwiderte sie und wandte sich zu Marlene um. Aus ihren Augen sprühten regelrechte Zornesfunken. „Du weißt, dass ich es tun musste, Adara. Ansonsten wäre alles noch sehr viel schlimmer geworden." Aber Adara hörte ihr nicht zu. Ihre Mundwinkel begannen zu zucken. „Du hast mir mein Glück genommen, Marlene. Das werde ich dir nie verzeihen." Und damit wandte sie sich wieder von ihr ab und ließ ihre Schwester mit offenem Mund auf dem breiten Flur stehen. Sie glitt beinahe unbemerkt durch die Gänge des Palastes, in dem sie aufgewachsen war. Doch nichts an dem ihr so bekannten Gemäuer weckte in ihr mehr das alte Gefühl der Geborgenheit und Liebe. Nein, diese Empfindungen gehörten für sie nun an einen ganz anderen Ort. Hier unten war einfach alles nur noch kalt und grau und leblos. Sie fand nach kurzer Zeit jene Tür, nach der sie gesucht hatte und verschwand dahinter, schloss sie doppelt und dreifach ab, bevor sie sich in ihr Bett sinken ließ und weinte. Obwohl – ob sie weinte, konnte sie gar nicht so genau sagen, diese Erfahrung war irdischer Natur, hier schluchzte sie lediglich in ihre Kissen. Der Tag war für sie gelaufen, ebenso dies ganze Woche, wenn nicht sogar das gesamte Jahr. Am Besten sie würde einfach nie wieder aus ihrem Zimmer herausgehen. Den Palast konnte sie nun eh nicht mehr verlassen.

Tom kniete noch immer hinter dem Haus im hohen Gras und schaute unverwandt auf den Horizont, der sich unterdessen dunkel gefärbt hatte. Über ihm waren die zart flockigen Schäfchenwolken einem Sternenmeer gewichen und auch die Temperatur war um mehrere Grad Celsius gefallen. Und dennoch machte er keine Anstalten, sich auch nur einen Millimeter zu rühren. Seit Stunden verharrte er nun schon so, auf seinen Knien zusammengesunken und vor den Bruchstücken seiner einst so heilen Welt zurückgelassen. Unweigerlich fühlte er sich an den Mittag zurückversetzte, als er am Strand gestanden hatte und sich in ihm dieses alles verschlingende, schwarze Loch wieder geöffnet hatte. So fühlte er sich auch jetzt wieder, nur etwa zehnmal schlimmer und die Dunkelheit machte es nicht gerade besser. Noch immer sah er vor seinem geistigen Auge, wie Fé in Marlenes Klammergriff über den Rand der Klippe gezogen wurde und sie beide in die Tiefe stürzten. Wie in Zeitlupe. Das alles war einzig und allein seine Schuld. Weshalb hatte er sie nur dazu überredet, zur Urteilsverkündung zurückzukehren? Er schlug vor sich auf den Boden. Der Wind hatte seine Tränen schon längst wieder getrocknet und nun kamen auch keine neuen mehr. Vielleicht hatte er sich schon ausgeheult, er hatte keine Ahnung. Irgendwann rappelte er sich dann endlich auf und schwankte zurück ins Haus. Das Licht blieb aus und Tom machte es sich wieder im Gästezimmer bequem. Im oberen Stockwerk wollte er nicht mehr schlafen. Nicht, nachdem er nun schon zum zweiten Mal alles verloren hatte, was ihm wichtig gewesen war. Und der Albtraum schien von vorne loszugehen. Diese erste Nacht überstand Tom nur sehr schlecht. Der Schlaf blieb ihm lange Zeit fern und in den wenigen Stunden, in denen er doch zur Ruhe kam, träumte er von Fé, die ihm auf hundert verschiedene Arten geraubt wurde. Um fünf war er wieder wach und saß in der Küche am Tresen, vor ihm eine angebrochene Flasche Scotch. Mit Wehmut stellte er fest, dass es derselbe Alkohol war, mit dem er damals Adaras Wunden versorgt hatte. Er prostete einem unsichtbaren Trinkkameraden zu, der zwischen ihm und dem Kühlschrank stand und genehmigte sich den Gott wusste wievielten Schluck. Das wurde leider auch in den folgenden Tagen nicht besser. Immer öfter suchte er seinen Gram und Schmerz im Alkohol zu ertränken, schlief mit einem ziemlich hohen Promillespiegel ein und wachte mit einem kaum niedrigeren wieder auf, nur um gleich wieder zur Flasche zu greifen um die Albträume vergessen zu können, bis er nur noch auf der Couch saß und zu Michael Bolton's Songs mitjaulte und dem Sänger vorhielt, dass seine Liedtexte gerade nicht hilfreich seien. Die Bilder auf dem Flügel hatte er mit dem Gesicht nach unten hingelegt und alles, was ihn an Adara erinnerte, wurde aus seinem Blickfeld verbannt, wie er es damals mit seiner Familie getan hatte, als er es schließlich nicht mehr ausgehalten hatte. Eines Tages tauchte dann Tülay wie aus dem Nichts bei ihm auf und bleib ziemlich perplex im Eingang stehen, als sie das Chaos und den in sich zusammengesunkenen, unrasierten, in eine Kuscheldecke gehüllten und mit tiefen Augenringen versehenen Tom auf der Couch entdeckte. „Wie siehst du denn bitte aus?", empörte sie sich und vor Entsetzen rutschten ihr sämtliche Kataloge aus den Händen. Sie stieg über die zahlreichen leeren Flaschen und wich kurz zurück, als ihr seine Alkoholfahne entgegenschlug. „Bah, wie lange vegetierst du schon so vor dich hin?", wollte sie von ihm wissen, doch er schaute nur aus glasigen Augen zu ihr empor. Musik drang aus den Lautsprechern. „How am I supposed to live without you? Ist das dein Ernst?" Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und schaute ihn streng an. „Du tust ja gerade so, als wäre jemand gestorben, sag mal, was ist eigentlich los mit dir? Und überhaupt, wo ist Adara?" Sie schaute sich um, konnte sie aber vorhersehbarer Weise nicht entdecken. „Weg", war die kurze und knappe Antwort Tom's, der sich in diesem Moment einen weiteren Drink genehmigen wollte, dann aber bemerkte, dass auch diese Flasche leer war und sie zu den anderen stellte. Tülay quittierte das mit einem mitleidigen Blick.

Sielehnte am Fenster und wünschte sich nichts sehnlicher, als einfachhinausschwimmen zu können. Zum zigtausendsten Mal versuchte sie nun schon, mitder Hand durch die ovale Öffnung im Stein zu kommen, doch es war, als bildetedas Wasser selbst eine unpassierbare Mauer. Immer wieder prallte sie dagegenund fast wagte sie zu glauben, dass irgendein Scherzkeks nachts eineFensterscheibe hatte einbauen lassen. Nur um sie zu nerven. Es klopfte an ihrerTür, wie jeden Tag, wenn es galt, die neue Königin unters „Volk" in dieöffentlichen Räumlichkeiten zu schaffen, damit sie sich um die Belange deranderen kümmern konnte. Meistens versuchte man auch einfach nur, ihr Nahrungzukommen zu lassen. Doch wie jeden Tag, seitdem sie hier eingesperrt war,stellte sie sich taub und arbeitete stattdessen an ihren Plänen, sich demOrakel zu widersetzen, nur um zu beweisen, dass sie es konnte. Schließlichhatte sie es auch geschafft, trotz dem Urteilsspruch des Orakels bis an dieKüste Irlands zu kommen und das Wasser zu verlassen. Plötzlich ertönte MarlenesStimme auf der anderen Seite der abgesperrten Pforte zu Adaras Gemächern. „Kommschon, mach endlich auf, Adara", verlangte sie und fast hörte es sich so an,als machte sich ihre ältere Schwester Sorgen. Aber sie antwortete nicht. „Dashat doch keinen Sinn! Sperr endlich diese Tür auf, bitte." Adara schloss ihreAugen und atmete tief durch. Ihre Brut hob sich, bevor ihrer Kehle einverzweifeltes Seufzen entwich, das sie so eigentlich gar nicht hatteproduzieren wollen. Es war dunkel in dem großen Raum, nur durch das eineFenster, durch das sie zwar hinausblicken, jedoch nicht entfliehen konnte,drang ein wenig Licht hinein. Verzweifelt wandte sie sich ab von der Illusionder Freiheit und ließ sich zurück in ihr Bett sinken. Vielleicht – so dachtesie – würde der Schmerz irgendwann nachlassen, wenn sie nur lange genug hierdrin blieb. Erneut seufzte sie. „Adara, bitte. Ich hab die anderen fortgeschickt.Wir sind jetzt alleine", raunte Marlene durch die Tür und die Worte kamengedämpft bis zu ihr durch. Sie wusste nicht, weshalb es etwas änderte, aberAdara setzte sich wieder auf. Ein weiterer Moment verging und sie ließ sich vonihrer Schlafstätte gleiten und trieb geschmeidig langsam durchs Wasser. Siezögerte, bevor sie den Schlüssel anfasste. Ein Gedanke schoss ihr durch denKopf. Mochte sich Tom wohl auch so gefühlt haben, kurz bevor er die Haustürgeöffnet hatte? Auch jetzt befand sich Marlene auf der anderen Seite, nur flogdiesmal die Tür nicht mit voller Wucht auf, als der Schlüssel im Schlossgedreht wurde. Nein, Marlene wartete fast schon geduldig, bis Adara die Türweit genug geöffnet hatte, sodass sie hindurchschwimmen konnte. Ihre Schwanzflosseglitzerte rötlich im Licht, das den Flur durchflutete. Der Schimmer erstarbjedoch, sobald sie im Raum war. Hinter ihr ließ Adara die Tür wieder insSchloss fallen. Einen Augenblick lang verharrte sie mit dem Gesicht zur Wand, bevorsie sich zu Marlene umdrehte. Diese musterte sie mit einem Blick vollerMitleid. „Es tut mir leid, Adara", flüsterte sie und ließ die Schultern sinken.Adara war es tatsächlich leid. Sie schaute ihre Schwester mit leeren Augen an, hob nur kurzihren rechten Mundwinkel und ließ ihn wieder an seinen alten Platzzurückfallen. „Es zerreißt mir das Herz, dich so zu sehen", fuhr Marlene fortund blieb noch immer mitten im Raum, während Adara langsam an ihr vorbeiglittund wieder ihren angestammten Platz am Fenster einnahm. So konnte sie wenigstenseinen winzigen Blick auf die Welt um sie herum erhaschen, auch wenn auf einmalalles blass und grau erschien. Sie stützte ihre Ellenbogen auf die Aussparungvor dem Fensterloch und legte ihren Kopf darauf. „Du solltest unter die Leutekommen, Kleines." Marlenes Worte prallten ungehört an ihr ab, ihre Gedankenkreisten nur um ein einziges Thema. „Ich habe ihn wirklich geliebt, Marly", wispertesie und wandte sich nicht von ihrem Fensterplatz ab. Hinter ihr seufzteMarlene. „Du hast mich schon lange nicht mehr so genannt", erwiderte sie undAdara konnte das Lächeln, das Marlenes Lippen umspielte, förmlich aus ihrerStimme heraushören.     

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Hei meine Lieben <3

Da ich morgen im Europapark sein werde, kommt das nächste Kapitel voraussichtlich erst am Samstag. ;) Ich hoffe, ihr verzeiht es mir. <3

Dafür werdet ihr dann ordentlich was zum Lachen haben ^^

Ich freu mich schon! Bis dann :*

Janine

Mermaid SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt