43. Eingekerkert

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Tom klappte einen weiteren Ordner zu. Die Firma warf beträchtliche Gewinne ab, hatte kaum mehr Obligationen gegenüber Kunden oder Banken und das Geschäft brummte. Frustriert ließ er sich auf die Couch fallen. Es gab nicht den kleinsten Hinweis darauf, wer ihm an den Kragen wollte. Er hatte jetzt alles zig dutzend Mal nachgeschlagen, es sich wieder und wieder durch den Kopf gehen lassen. Aber es kam einfach nichts dabei raus. Der zwölfköpfige Firmenvorstand konnte es wohl kaum auf ihn abgesehen haben. Sie brauchten ihn schließlich nicht, um zu handeln. Wenn er aus dem Weg geräumt würde, würden seine Anteile, die ja nun die klare Mehrheit bildeten, an die Börse gehen. Dass sie in kleinen Häppchen verkauft werden müssen und nicht alle auf einmal an dieselbe Person gingen, war schon von seinem Großvater in die Gründungsurkunde der Matryx inc. geschrieben worden. Also selbst wenn er sterben würde, würde sich niemand sein Vermögen unter die Finger reißen können. Er stutzte, griff dann nach einem der anderen Ordner, die kreuz und quer verstreut im Wohnzimmer lagen. Es nahm ihn plötzlich wunder zu erfahren, wer denn die zweitmeisten Anteile besaß, doch auch diese Suche verlief im Sand. Mit einem erheblichen Abstand teilten sich mehrere dutzend Anleger den zweiten Platz, ebenso sah es für den dritten und alle nachfolgenden aus. Also auch kein Erbanwärter. Langsam gingen ihm die Ideen aus. Auch den Notar hatte er schon kontaktiert, um zu erfahren, wie es im Todesfall mit seiner Hinterlassenschaft aussah, doch kein Cent würde an die Wohltätigkeitsorganisation seiner Mutter gehen. War es im Übrigen auch vor einem Jahr nicht gegangen. Privat und Geschäft waren in seiner Familie immer ganz besonders groß geschrieben worden. Nur wie sollte man trotz all dieser Sackgassen in diesem scheinbar ausweglosen Labyrinth einen Attentäter Schrägstrich Mörder ausfindig machen, der anscheinend noch nicht einmal ein Motiv besaß? Frustriert stieß er die Luft zur Nase aus und ließ sich in die Polsterung sinken. Wenn bloß Fé hier gewesen wäre. Seit über drei Wochen war sie nun schon fort und noch immer hatte Tom kein Lebenszeichen von ihr bekommen. Und ehrlich gesagt wusste er nicht, was er denken sollte. So oder so versetzte ihm der Gedanke an sie einen ordentlichen Tritt in den Brustkorb. Denn es gab nur zwei plausible Möglichkeiten, weshalb sie noch immer nicht zurückkam, obwohl sie es doch versprochen hatte. Entweder war ihr etwas zugestoßen und derjenige, den sie eigentlich hatte aufhalten wollen, hatte ihr etwas angetan, oder aber – und Tom wusste nicht, welche der beiden einfacher zu ertragen gewesen wäre – sie wollte nichts mehr von ihm wissen und hatte gar nicht vor, sich je wieder bei ihm zu melden. Mit Zeige- und Mittelfinger massierte er die kleine Kuhle auf seinem Brustbein. Genau dort lag der Punkt, den man bei der Herzdruckmassage treffen musste, schoss es ihm durch den Kopf. Die Untätigkeit machte ihm zu schaffen. Obwohl er sich die letzten Tage hindurch doch recht gut mit der Suche nach der Sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen ein wenig abgelenkt hatte, brachte ihm dieses ganze Aktendurchforsten jedoch keinen Anreiz mehr. Es war langweilig und nervenaufreibend, zudem äußerst enttäuschend und langatmig. „Ich muss irgendetwas tun", sagte er zu sich selbst. Er sagte es laut, im Haus war es eh schon viel zu leise und außer den Telefonaten und vereinzelten Selbstgesprächen bemühte er seine Stimmbänder auch viel zu selten. Und wie er da so saß und an die Decke starrte, kamen ihm Ideen aller Art. Er hatte sich vor einer Woche eine zwölfer Glock besorgt. Eine recht grosskalibrige Schusswaffe – natürlich nur für den Notfall. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, ausgestellt wie ein Karnickel im Hasenstall präsentierfertig zu warten auf das Unausweichliche. Und die Kameras brachten auch herrlich wenig, wenn Tom sich schützen wollte. Auf der anderen Seite hingegen konnte er schlecht ins nächstbeste Flugzeug steigen und einfach einmal quer durch die Welt jetten, hatte er doch Adara gesagt, er würde hier auf sie warten. In ihm lag noch immer diese unbezwingbare – wenn auch völlig irrationale – Hoffnung, sie würde doch noch zu ihm zurückkehren.

„Dein Licht wird von Tag zu Tag schwächer, Adara", meinte Marlene ernst und betrachtete sorgenvoll Adaras Lichtkugel, die wie die anderen kaum mehr Wärme ausstrahlte. Die letzten Wochen waren eintönig schwarz und trostlos gewesen, die Routine, die sich aus schlafen und einer Mahlzeit pro Tag zusammenstellte, wirkte benebelnd auf alle und drückte schwer wie ein Zentner Blei auf die Moral. Die immer gleichen Bilder aus längst vergangenen Kindertagen hatten sich abgenutzt, sie zu sehen erweckte in keinem von ihnen mehr sonderliche Gefühle. „Ich übernehme wieder, Adara. Du bist erschöpft", verkündete Marlene ruhig aber bestimmt und fasste nach Adaras Handgelenk. Sofort fiel die schwache Kugel in sich zusammen. Adara schaute ihre Schwester nur irritiert an, ließ sie aber gewähren. Marlenes Hand war eiskalt. Fast noch kälter als das Wasser, das sie umgab. Die zwei kleinen waren ganz eng an sie gekuschelt. Adaras Augen brannten. Ihr Magen knurrte schon seit einigen Tagen nicht mehr und einmal täglich würgte sie die immergrüne Mahlzeit hinunter. Ihre Träume – ob sie nächtlich waren oder nicht, konnte Adara nicht sagen – gaben die Dunkelheit der Wachphasen wieder. Dunkel in dunkel lag ihre Umgebung da, sie konnten sich kaum bewegen in den winzigen Kerkerzellen, an Wärme war ohnehin kaum noch zu denken. Der alte Mann aus der Zelle nebenan hatte sich auch schon lange nicht mehr gemeldet. Gestern hatte eine Wache den unangerührten Teller wieder aus der Zelle geholt. Vielleicht war er gestorben, ihr Nachbar. Aber sie alle steckten hier in dieser Situation. Niemand wusste, wie lange sie noch hier ausharren und ob sie die Kerkerzellen überhaupt jemals wieder lebend verlassen würden. Und das war für Adara eine der schlimmsten Dinge, die es anzunehmen galt. Nicht die Beschimpfungen der Wachen und auch nicht die Kälte oder die Erschöpfung machten ihr zu schaffen, diese hätte sie ohne Schwierigkeiten ausgestanden, hätte sie nur gewusst, dass sie Tom irgendwann wiedersah. Marlene scheiterte unterdessen bei dem Versuch, eine eigene Lichtkugel zu erschaffen. Nicht nur, dass ihr Licht stechend kalt in alle Richtungen schoss, auch die Bilder, die flackernd und unscharf kurzzeitig erschienen, zeigten Wut und Zerstörung. In Marlene mussten sich unbegreifliche Abgründe auftun, dachte Adara bei sich. „Lass das, Marlene", beschwor sie die ältere von ihnen und obwohl Marlene eigentlich nicht hatte auf ihre kleine Schwester hören wollen, erlosch ihre Lichtkugel gegen ihren Willen einen Moment später. Frustriert schlug sie mit ihrer Flosse gegen die Gitterstäbe. „Das bringt nichts", flüsterte Adara, was ihre Schwester nur noch wütender werden ließ. „Ich weiß, dass es nichts bringt", fuhr sie sie an „ich weiß es seit Monaten! Aber im Gegensatz zu dir will ich nicht hier versauern! Schau mich nur mal an, ich bin jetzt schon kaum mehr als Haut und Knochen, Adara! Wir müssen schließlich irgendetwas tun, und wenn es nur so wenig ist, wie etwas Licht zu erzeugen." Ihre Stimme, die zu Beginn noch so gehässig und voller Energie geladen war, hatte rasant an Stärke und Schärfe verloren, ja war auf den letzten Worten kaum mehr als ein Flüstern gewesen. Und nun saß Marlene wieder so stumm wie zuvor neben ihr. „Es tut mir leid", hauchte sie irgendwann. „Ich wünschte nur, du hättest noch schöne Erinnerungen in Petto. Ich kann doch meine Kinder nicht sterben lassen." Marlene vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, Adara legte ihr einen Arm um die Schultern. Ganz vorsichtig streichelte sie über Marlenes üppiges Haar und überlegte. Sie überlegte lange Zeit, ob sie mit der Wahrheit rausrücken sollte. Ob sie die Gefahr und das Risiko hinnehmen konnte. Doch schlussendlich lief es sowieso auf dasselbe hinaus: entweder würde Marlene ihr wie schon so lange befürchtet den Kopf abreißen oder sie würde hier unten in den Katakomben mit all den anderen sterben. Früher oder später wäre sie so oder so tot. „Marlene", flüsterte Adara irgendwann in die Dunkelheit hinein und ihre Schwester hob den Kopf. „Ich hab noch eine Erinnerung", wisperte sie. „Eine schöne?" „Ja. Eine sehr schöne sogar." Aber Adara machte keine Anstalten, ihre Lichtkugel wieder erscheinen zu lassen und so wurde Marlene vor lauter Ungeduld wütend. „Warum in aller Götter Namen tust du das?", brüllte sie, doch ihre Stimme war kaum mehr als ein krächzendes Flüstern. „Weil du mich hassen wirst", entgegnete Adara betreten und löste sich von Marlene, von der sie trotz der Dunkelheit wusste, welch in Unverständnis verzerrtes Gesicht sie gerade machte. „Ich hasse dich, wenn du jetzt meine Kinder sterben lässt", erwiderte sie mit Grabesstimmte.

Adara lief es kalt den Rücke hinunter. Marlene meinte es wirklich ernst. Trotzdem zögerte sie. „Adara", beschwor ihre Schwester sie drohend, ihre Stimme bebte. Und dann plötzlich strömte eine Hitzewelle explosionsartig in alle Richtungen, als Tom sie in der strahlenden Lichtkugel küsste und ihr Gesicht mit beiden Händen zärtlich umfing. Neben ihr keuchte Marlene vor Erstaunen. Auf einmal war es taghell in ihrer Kerkerzelle und sogar mehrere dutzend Meter des langen Flures wurden ebenfalls erleuchtet und gewärmt, als hätte gerade eben jemand die Zentralheizung angelassen. Adara achtete dabei jedoch genauestens darauf, nur ihre Gesichter zu zeigen. Jeglicher Hintergrund, die grünen Wiesen, das Haus und sogar das Meer – mal abgesehen von den südlichen Extremitäten der menschlichen Körper – hätten sie verraten. So aber hielt sie ihr Geheimnis vor Marlene und allen anderen verborgen und sicher. „Adara", hauchte ihre Schwester neben ihr. Sie plötzlich ganz nah. „Schau nur." Sie deutete auf die Gitterstangen ihrer Zellentür – oder vielmehr, was dahinter lag und als Adara aufsah, bemerkte sie die dutzende Arme, Hände, Schwanzflossen und Gesichter, die sich dicht an dicht an die Kerkerzellengitter drängten und versuchten, ein wenig von der Wärme zu ergattern. Stimmen erhoben sich, bald dröhnte ein stetes Murmeln wie monotones Summen durch die höhlenartigen Gänge, dann wurden einige lauter, verlangten, dass Adara ihre schönsten Erinnerungen mit ihnen teilte. „Na mach schon", wisperte Marlene ihr zu. In ihrem Blick lag dieses gewisse Etwas, das zu sagen schien „wir sind es ihnen schuldig". Also stieß sie sich vom Boden ab und trieb langsam auf das Gitter zu. Ihre Lichtkugel, die noch immer ihren ersten Kuss zeigte, glitt ohne weiteres durch die rostenden Stangen hindurch und trieb im Wasser langsam einige Meter den Gang entlang, begleitet von geraunten Oh's und Ah's, Licht und Wärme ausströmend wie ein Notfallstromgenerator.

Langeschauten alle einfach nur zu. Mit der Zeit verließen einige dann ihre Plätze anden Gittern und auch Adara ließ sich irgendwann an den Stäben hinuntergleiten,sodass sie wieder auf dem Boden zu sitzen kam. Erst als sie der Erschöpfungnahe beinahe einschlief, ließ sie ihre Kugel zusammenfallen. Ihre Augenbrannten fürchterlich. Die ganze Zeit über – es mochten mehrere Stunden gewesensein – hatte sie unaufhörlich auf die Kugel gestarrt. Und jetzt erst wurde ihrso richtig bewusst, dass Tom sie wirklich geküsst hatte. Sie. Mit seinenLippen. Er. Ein Mensch. Zuvor hatte sich das alles irgendwie nicht realangefühlt, nicht wirklich, nicht echt. Aber nun, da sie es wieder und wiedergesehen hatte, diesen Kuss in Endlosschleife, war es doch erheblichschwieriger, diese Tatsachen zu leugnen. Seltsamerweise fühlte sie sich nunviel besser. Ob es wohl an der wohligen Wärme lag? Marlene und die Kleinenschliefen wahrscheinlich schon längst und auch sie hatte mittlerweile Mühedamit, die Augen offen zu halten. Aber sie spürte auch eine schüchterne,zurückhaltende aber präsente innere Ruhe in sich. Die Art innerer Ruhe, die siebei ihrem Vater immer verspürt hatte und zuletzt auch in Toms Nähe. Sie fühltesich ausgeruht. Wie sehr sich eine glückliche Erinnerung von einer jederanderen unterschied. Gähnend musste sie daran denken, dass Marlene zur Zeitnicht in der Lage war, überhaupt noch einen schönen Gedanken zu fassen.Bitterkeit und Hass vernebelten ihre Sicht der Dinge und Adara konnte es ihrnoch nicht einmal übelnehmen. Aber dass gerade die Erinnerung an Tom, die sieselbst hätte mit Trauer und Bedauern überfluten müssen, ausgerechnet einensolch imposanten und vor allem langlebigen Effekt gehabt hatte, verwunderte siedoch ein wenig. Und auf einmal stellte sie in Frage, was sie für diesenMenschen, der im Haus hoch oben auf den Klippen wohnte, eigentlich überhaupt empfand.    

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Hallihallo :)

ich weiss, ich bin gerade etwas hyperaktiv und in Kapiteln passiert jetzt auch nicht gerade soooooo viel, aber ich verspreche euch, das wird sich bald wieder ändern ;) 

langsam fallen mir keine Kapitelnamen mehr ein XD

LG <3 Janine


Mermaid SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt