Adara hätte sich am liebsten übergeben bei dem Gedanken, wer denn da gerade in Stücke gerissen wurde. Noch immer kauerte sie hinter dem Thron und wartete nur darauf, dass man sie finden würde. Ihr Schrei und der Aufschlag der Harpunenspitze konnten schließlich nicht unbemerkt geblieben sein. Aber nichts passierte. Schließlich zerrte sie sich aus ihrem Versteck hervor. Der Blutgeruch wurde immer stärker und sie wagte es nicht, sich der Szene zuzuwenden. Nicht nur aus Angst, die toten Körper ihrer liebsten zu sehen. Es war ihre Schuld! Ganz alleine ihre Schuld, dass Marlene, Caylin Réalta und Léas Solas ein solch schlimmes Schicksal ereilt hatte. Um sie herum begann sich alles zu drehen und schwarze Ränder zogen sich in ihr Blickfeld. Der unerträgliche Blutgeruch umhüllte sie und ließ sie würgen. Plötzlich packten sie zwei Hände bei den Schultern und halfen ihr, sich aufzurichten. Erst wehrte sie sich dagegen, gab schließlich aber auf. Sie war sowieso in der Unterzahl und zudem am Ende ihrer Kräfte. Sollten sie sie doch auch gleich eliminieren, dann musste sie wenigstens nicht mit der Schuld leben. Aber die Hände hielten sie nicht fest, sondern richteten sie lediglich auf. Adara blickte verwirrt auf und schaute direkt in das Gesicht ihrer Schwester. „Was...", keuchte sie erleichtert und schlug sich eine Hand vor den Mund. Und dann wandte sie sich doch um. Wenn Marlene lebend vor ihr stand, wessen Blut füllte dann den gesamten Raum? Die Haie, die im Blutrausch kaum mehr etwas von ihrer Umwelt mitzubekommen schienen, drückten ihre mächtigen Körper aneinander und stießen sich gegenseitig mit kräftigen Flossenschlägen von der Quelle ihres Rauschgutes fort. Zwischen den glatten, grauen Körpern erhaschte Adara schließlich einen Blick auf die ganze Szenerie. Die Harpunenspitze, die ungewollt der Schusswaffe entwichen war und Adara beim Verlassen der Gerätschaft die Harpune schmerzhaft in den Bauch gerammt hatte, hatte sich, entgegen ihrer anfänglichen Vermutung, durch die Rückenlehne des Thrones gebohrt und Nemico rücklings aufgespießt. Aus seiner Brust ragte noch die goldene Spitze. Als Adara jedoch sein Gesicht erblickte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Seine toten Augen leuchteten grüner als alles, was sie bisher gesehen hatte. Sogleich aber wurde ihr die Sicht wieder versperrt. Marlene zog ungeduldig an ihrem Arm. „Komm schon, Adara!", flehte sie panisch. „Wir müssen von hier fort! Na los, mach schon, uns bleibt nicht viel Zeit!", insistierte sie und nun schien auch Adara endlich aus ihrer Trance zu erwachen. Sie setzte sich zögerlich in Bewegung. „Die Haie werden im Rausch einfach alles angreifen, was nicht niet- und nagelfest ist!", fuhr Marlene fort und schwamm geradewegs auf eines der großen Fenster zu. Die Wachen versuchten erst gar nicht, sie aufzuhalten, sondern waren um ihre eigene Sicherheit besorgt, wie es schien. Die Haie würden nicht mehr lange an Nemico's blutendem Leichnam zu knabbern haben. Marlene zog ihre Kinder mit sich, weshalb Adara sie bald überholt hatte und sich nun am Fenster zu schaffen machte. Dabei durchzuckte ein fast unerträglicher Schmerz ihre Seitengegend. Doch sie ignorierte es. Im Moment gab es so viele andere Dinge, die um einiges wichtiger waren als irgendwelche Seitenstiche. Um Entkräftungssymptome konnte sie sich auch noch später Gedanken machen. Schließlich brachte sie das Fenster auf. Vor ihren Augen begann sich alles zu drehen. Erst jetzt schien sie zu realisieren, was da unten gerade passiert war. Marlene war nicht tot. Ebenso wenig wie ihre Kinder. Stattdessen hatte Adara den Tod Nemicos zu verantworten. Sie hatte ihn ermordet. Sie hatte es tatsächlich getan. Man würde sie schrecklich dafür bestrafen. Und gleichzeitig zog eine unsichtbare Kraft weiter und fort vom Muschelpalast und Adara wusste, dass es sich dabei um Tom handelte, der immer und immer wieder nach rief, wie er auch in den letzten Monaten immer wieder nach ihre gerufen hatte. Unerlässlich. Sie nahm Marlene eines der Kinder ab und so schwammen sie Seite an Seite um ihrer beider Leben. Sie schwammen schnell, obwohl sie am Ende ihrer Kräfte waren und Adaras Schmerzen immer heftiger wurden. Rasch hatten sie die Stadt durchquert und waren zu den Algenfeldern gelangt. Als sie auch diese hinter sich gelassen hatten, erreichten sie irgendwann die Höhlenlabyrinthe. Noch immer dachten sie noch nicht einmal daran, ihre Geschwindigkeit zu verringern. Als jagte sie ein Schwarm Stachelrochen rasten sie durch die engen Gänge, in denen Adara Monate zuvor den fatalen Fehler gemacht hatte, sich der Stadtwache, in der Hoffnung auf Verbündete zu treffen, zu stellen. Erst als sie auf halbem Weg durch die weit verzweigten Gänge waren und die Kinder langsam nicht mehr mitkamen und sich über ihre müden Glieder zu beschweren begannen, drosselten Adara und Marlene ihr Tempo. Außer Atem legten sie auch den Rest des vor ihnen liegenden Weges zurück und fanden sich bald in der Tiefseeschlucht wieder. Adara brauchte unbedingt eine Pause. Sie ließ Léas Solas los und stützte sich an der Felswand ab. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt sie sich den Bauch. Der Schmerz breitete sich langsam aber sicher aus und erschwerte ihr das Vorankommen. Auch Marlene blieb kurz bei ihr. „Geht es?", fragte sie besorgt und stricht Adara fast schon liebevoll über den Rücken. Diese nickte nur. „Danke", hauchte Marlene. „Du hast uns gerettet. Ich...", raunte sie und suchte nach Worten, als ob sie einen dicken Kloss im Hals hatte. Adara winkte ab. Sie wollte weder den Dank noch das Lob haben. Sie hatte etwas Schreckliches und Abscheuliches getan, wogegen sie sich obendrauf sogar eigentlich noch gewehrt hatte, als es noch in ihrer Hand gelegen hatte, Marlene zu retten. Es war mehr Zufall gewesen. Hätte sich der Schuss nicht von selbst gelöst... Sie mochte gar nicht daran denken. „Komm weiter, Adara. Die Zeit drängt", befahl Marlene aber schon im nächsten Moment und zog sie mit sich. Doch Adara machte sich von ihrer Schwester los. „Ich kann nicht", keuchte sie erschöpft. In ihren Eingeweiden pochte ein dumpfer Schmerz, der sich schnell ausbreitete. Marlene musterte sie entsetzt. „Was? Wohin... Du kannst doch nicht zu diesem Menschen zurück wollen!", empörte sie sich, doch Adara winkte erneut ab. „Doch. Ich gehe zurück. Ich kann nicht mit euch mitgehen. Tut mir leid, Marlene." Die Miene ihrer Schwester versteinerte sich. Einen Moment lang musterte sie Adara eindringlich, gab dann jedoch nach. „Du musst selbst wissen was du tust", meinte sie schließlich ernst. Adara schloss dankbar die Augen und stieß erleichtert einen Schwall Luft aus. In immer grösser werdenden Blasen stieg der Sauerstoff immer höher über ihren Köpfen empor. „Wir sehen uns in genau dreißig Tagen wieder hier, verstanden?", legte Marlene aber doch noch nach und war nun wieder ganz die strenge große Schwester, die Adara in Erinnerung hatte. „Danke", hauchte sie und schwamm senkrecht nach oben davon, während Marlene samt Kindern durch die dunkle Schlucht tauchten. Adara wurde schier gezogen von dem Ruf, der sie ereilte. Trotz ihrer schwindenden Kräfte glitt sie pfeilschnell durchs Wasser. Ihre Vorfreude stieg mit jedem Meter, den sie zurücklegte ebenso wie die Übelkeit in ihrer Magengrube. Die Schmerzen spürte sie wie stechende Messer in ihrem Leib, doch ans Anhalten war gar nicht zu denken. Der Ruf war zu stark, als dass sie ihn noch länger hätte ignorieren können. Doch plötzlich ebbte er ab. Als hätte man ein dickes Seil durchtrennt. Panik erfasste sie.
Das kleine Holzboot schaukelte gefährlich bei dem hohen Wellengang, hielt sich jedoch wacker gegen jede hereinbrechende Woge. Das Wasser war so dunkel wie selten zuvor und hoch über seinem Kopf brodelte es regelrecht in den Wolken. Blitze zuckten wie wütende Giftschlangen durch den Himmel und erhellten den viel zu dunklen Mittagshimmel. „Fé!", schrie Tom ein weiteres Mal und immer wieder. Ruhelos brüllte er ihren Namen, schon seit Tagen und Wochen. Immer wieder war er hier herausgekommen in der irrsinnigen Hoffnung, sie würde ihn so vielleicht besser hören. Aber noch nichts war passiert. Fé war einfach nicht zu ihm zurückgekehrt und langsam machte sich Tom nicht nur mehr bloße Sorgen um sie. Es konnte doch einfach nicht sein, dass sie sich nicht mehr meldete. Er hatte gedacht, die würde ähnlich für ihn empfinden und gerade nachdem er sie doch geküsst hatte, sollte sie doch zurückkehren und zumindest das klären wollen. Oder etwa nicht? Hatte er sie damit so weit von sich weggestoßen, dass sie ihn am liebsten nie wieder sehen würde? „Fé!", brüllte er noch einmal. Der Wind zerrte an ihm, an seiner Kleidung und seinen Haaren und Tom hatte Mühe, sein Gleichgewicht zu halten und nicht über Bord geweht zu werden. Das Meer spielte noch immer verrückt. „Was zum Teufel ist da nur los?", fragte er sich nicht zum ersten Mal in den letzten Monaten. „Fé!" Das Meer schien ihm unter keinen Umständen antworten zu wollen. Stattdessen grollte noch mehr Donner über ihn hinweg. Doch dann, auf einmal, schienen sich die Wellen langsam zu beruhigen. Die Wogen glätteten sich mehr und mehr und bald zuckte auch der letzte Blitz trotzig über den Himmel, bevor plötzlich ein goldener Schein die Wolkendecke durchbrach und der Szenen einen unwirklichen Schein verlieh. Tom schnappte ungläubig nach Luft. Jetzt fehlte nur noch, dass Fés Kopf aus dem Wasser auftauchte, um das Bild perfekt zu machen. Doch das passierte nicht. Nach einer Viertelstunde setzte Tom sich verzweifelt auf die hölzerne Planke seines kleinen Ruderbootes und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Die Wolken über ihm verzogen sich auf wundersame Weise und nach fast vier Monaten des andauernden Sturmes, erhellte endlich goldener Sonnenschein wieder den stahlblauen Himmel. Noch einige Male rief Tom erfolglos nach Fé, die noch immer kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, dann stutzte er plötzlich. Am Horizont erblickte er etwas, das ihn in erregte Panik geraten ließ. Wie eine heranrollende Wand baute sich das Meer erst in einiger Entfernung auf und raste auf ihn zu. Er hatte so etwas befürchtet, schließlich konnten die Wassermassen nicht einfach so in einem schwarzen Loch verschwinden. Mit aller Muskelkraft legte er sich in die Ruder und wollte erst versuchen, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen, erkannte aber sofort die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens und wendete stattdessen das Boot so, dass es möglichst gerade auf die Wasserwand treffen würde und mit ein wenig Glück nicht kenterte. Er schickte ein Stoßgebet gen Himmel und hielt mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen, als das kleine Holzboot mit voller Wucht erfasst und in die Höhe gerissen wurde. Einen kurzen Moment lang fühlte er die Schwerelosigkeit in jeder Faser seines Körpers und gleichzeitig wusste er, dass das alles kein gutes Ende nehmen würde. Rückwärts fielen er und sein Nussschalenboot zurück und wurden von der Riesenwelle förmlich überrollt. Sie fegte einfach über sie hinweg als existierten sie noch nicht einmal und ohne an Intensität und Zerstörungskraft zu verlieren. Tom wurde ins kalte Wasser geworfen und verlor kurz die Orientation, als er von der nächsten Welle überrumpelt und mitgerissen wurde. In seinen Ohren dröhnte es und alle seine Instinkte trieben ihn dazu an, die Wasseroberfläche zu erreichen. Seine Arme setzten sich in Gang, aber vorwärts kam er nicht. Er wollte schreien, als es ihn immer tiefer ins dunkle Wasser zog, wobei seinen Lungen die Luft entwich und in großen, der Sonne entgegensteigenden Blasen davonschwirrte. Entsetzte schaute er ihnen nach, konnte sich aber nicht helfen. Ein Blick nach unten genügte um zu erfahren, was hier gerade vor sich ging. Panik stieg in ihm hoch. Sein Herz pulsierte hart gegen sein Brustbein und seine Lungen brannten entsetzlich vom eingeatmeten Meerwasser. Sein Fuß hatte sich in eine Seilschlaufe verfangen und diese wiederum hing... Um ihn herum wurde es immer dunkler, je tiefer er mitgerissen wurde. Dennoch konnte der den gusseisernen Anker noch erkennen, der ihn unerbittlich nach unten zog. Tom verspürte das Gefühl, dass sein Kopf bald explodieren müsste und der Ohnmacht nahe legte er nur noch schmächtige Rettungsversuche an den Tag. Es half nichts. Er konnte sich nicht befreien. Er wollte die Luft anhalten, doch dazu hätte er Sauerstoff gebraucht. Er würde unselig ertrinken und konnte nichts daran ändern. Kurz bevor er seine Augen ein allerletztes Mal schloss, formten seine Lippen noch ein Wort. Eine einzige Silbe, die lautlos und ungehört über seine Lippen kam und mit dem letzten Hauch seiner Seele verschmolzen seinen schon fast toten Körper verließ. „Fé."
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Mermaid Summer
FantasyTom's Unglück begann vor etwa einem Jahr, als er zusehen musste, wie seine Familie in einem schrecklichen Brand ums Leben kam. Als einziger Überlebender schlägt er sich mit heftigen Depressionen und Albträumen herum und kann einfach nicht glauben, d...