72. Überfall auf Tom

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Natürlich war sie entkommen. Sie war durch die Fluten gerast wie eine Wilde und selbst Marlene hätte ihre liebe Mühe damit gehabt, sie einzuholen. Sie fröstelte, als sie daran dachte, was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie nur einen Augenblick länger gezögert hätte. Sie verdrängte den Gedanken. Immerhin hatte das Orakel Milde walten lassen, was den Halbwüchsigen anging. Immerhin. Adara stützte sich am Waschtisch ab und betrachtete sich lange im Spiegel, ehe sie tief durchatmete und wieder in Richtung Schlafzimmer wanderte. Sie ließ sich Zeit, ehe sie ein neues Kleidungsstück aus dem alten, schönen Holzschrank zog. Dass ihre Verurteilung ausgerechnet auf dem basieren würde, was nach dem Tod ihres Vaters passiert war, hätte sie nicht gedacht. Sie hätte eigentlich für den Mord an Nemico – und allein deswegen – gerichtet werden müssen. Das war doch alles nicht fair. Sie schüttelte den Kopf und sollte das alles möglichst schnell vergessen, schließlich war es nun vorüber und einem Leben mit Tom stand damit nichts mehr im Weg. Überhaupt nichts mehr. Auf einmal war ihr Leben wieder in Ordnung. Marlene, das Orakel und all die anderen schienen so unendlich weit entfernt zu sein, unwichtig im Angesicht ihrer strahlenden Zukunft unter den Menschen, an Tom's Seite. Sie lächelte bei diesem Gedanken. Ja, sie würde hier bleiben. Es gefiel ihr hier. Und gemeinsam würden sie alles überstehen können, da war sie sich sicher. Selbst diesen üblen Typen, der es anscheinend auf Tom abgesehen hatte, ja selbst den würden sie überleben. In ihr flammte regelrechter Ehrgeiz auf. Einen Augenblick lang schaute sie aus dem Fenster auf den strahlend blauen Himmel und die schäumenden Fluten, die aus dieser Höhe einfach unglaublich aussahen. Vielleicht würde sie Tom darum bitten, wieder zu Henry und Maria zu ziehen – auch wenn sie dann noch sehr viel mehr auf ihre Sicherheit achten müssten. Es war ihr ehrlichgesagt egal. Solange sie nur hier sein konnte. An Land. Mit Tom. Hier konnte sie frei atmen und fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben ganz und gar ungezwungen. Die Erkenntnis kam eigentlich reichlich spät. Sie hätte schon viel früher von zu Hause verschwinden sollen, auch wenn das bedeutet hätte, ihren geliebten Vater im Stich zu lassen. Wenn sie so auf ihr Leben zurückblickte, wurde ihr klar, dass sie dort niemals hätte glücklich werden können. Sie wäre immer ein Vogel in einem goldenen Käfig gewesen und irgendwann wäre sie daran zerbrochen. Sie legte eine Hand auf das kühle Glas der Scheibe, die unter ihrem Atem anlief.

Tom lachte noch immer leise in sich hinein, als er den restlichen Tomatensaft vom Küchenschrank wusch. In seiner Magengrube hockte ein tiefverwurzeltes Glücksgefühl, das ihn hier und da kitzelte, wie auch jetzt. Die Vorfreude packte ihn und der Gedanke, dass Fé nun endlich und endgültig bei ihm war, steigerte seine Freude schier ins Unermessliche hinein. Es war seltsam, aber er fühlte sich, als hätte er jahrelang erwarteten Besuch bekommen. Und das beste an allem war, dass sie bleiben würde. Mit ihr war alles so viel einfacher, so viel besser. Seine Welt wurde durch Adara ein ganzes Stück bunter und freundlicher und das schwarze Loch, das in seiner Seele saß, wurde gestopft. Es würde zwar nie ganz verschwinden, dessen war er sich durchaus bewusst, denn seine Familie würde er niemals vergessen. Aber die Wunden heilten und auf die zurückbleibenden Narben würde er mit viel Liebe blicken. Er bemerkte nicht, wie hinter ihm einer der Bildschirme zu flackern begann. Den Alarm hatte er nicht wieder eingeschaltet. Und so putzte er grinsend die letzten blutroten Saftspuren von dem Küchenmobiliar, während der ungebetene Gast unaufhaltsam immer näher kam. Als er fertig war, hängte er sich das Küchentuch stolz über die Schulter. Auf einmal klopfte es an der Tür. Oder besser: jemand hämmerte regelrecht auf die Haustür ein. Tom zuckte zusammen und wäre beinahe die drei Stufen, die Küche und Wohnzimmer trennten, hinuntergestürzt. Sein erster Reflex war, sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Doch wohin hätte er gehen sollen? Er befand sich abgeschnitten von der Welt hoch oben auf einer Klippe. Außerdem war Fé oben und Gott behüte denjenigen, der ihr zu nahe kam. Sein zweiter Gedanke galt den Sicherheitsleuten. Hatten sie diesen Türmisshandler etwa durchgelassen? Wozu bezahlte er diese Schränke von Männern eigentlich, wenn sie jeden x-beliebigen zu ihm ließen? Vielleicht waren sie tot, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf und Panik stieg in ihm hoch. Doch dann meldete sich sein logisches Denken wieder bei ihm und erinnerte ihn daran, dass es mehr als unwahrscheinlich war, dass gute zwei dutzend ausgebildete Wachleute einfach so dem Erdboden gleichgemacht werden konnten – ohne dass jemand etwas davon bemerkte oder einer von ihnen um Hilfe rief, zumindest. Andererseits war genau das mit seiner Familie geschehen. In ihm machte sich ein ganz dummes, flaues Gefühl breit. Diese Art von Gefühl, die einen an sich selber zweifeln ließ und einfach alles in Frage stellte. Vielleicht war es auch einer der Securities, der nachschaute, ob alles in Ordnung war? Diese Möglichkeit kam ihm wie immer als letztes in den Sinn. Er atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Weshalb um Himmels Willen spann ihm sein Hirn immer zuerst die wildesten Geschichten zusammen, ehe es nach rationalen Antworten suchte? Kopfschüttelnd versuchte er, seinen Puls wieder zu beruhigen. Langsam ging er auf den Eingang zu. Das Klopfen an der Haustür hatte noch immer nicht aufgehört. Vielleicht war es auch nur Tülay, die ihn wieder zu überreden versuchte, an diesem sinnlosen Projekt mitzuarbeiten. Es hätte ihr ähnlich gesehen. Noch einmal atmete Tom tief durch, ehe er den Schlüssel umdrehte. Noch während er die Türklinke betätigte, fiel ihm ein Detail auf, das er vorher ignoriert hatte: Er hatte doch eine funktionierende Klingel, warum hatte man sie nicht benützt? Einen Sekundenbruchteil lang zögerte er. Doch da flog auch schon die massive Haustür auf, prallte hart gegen seine Stirn und ließ ihn Sterne sehend taumeln. Jemand betrat das Haus, doch er konnte nicht erkennen, wer es war. Schwarze Ränder umrahmten sein Sichtfeld und alles schien schemenhaft zu schwanken, während er noch immer versuchte, die vielen dunklen Punkte zu vertreiben, die ihn schwindelig werden ließen. Plötzlich fühlte er zwei kalte Hände an seiner Kehle und noch ehe er sich dagegen hätte zur Wehr setzen können, erfasste ihn jemand mit Schwung und schlug er mit dem Hinterkopf auf einer harten Kante auf. Tom konnte sich nicht mehr rühren. Pochender Schmerz zuckte in seinem Kopf und lähmte seine Gedanken. Ein tiefes Brummen ertönte, doch er wusste nicht, woher es kam, oder wo er es hätte einordnen sollen. Etwas schweres legte sich auf seine Brust und erschwerte ihm das Atmen zusätzlich und noch immer hatte er keine Ahnung, was eigentlich überhaupt passierte. Die Hände drückten noch immer mit aller Kraft zu und so sehr es ihn auch erschreckte, sah er sein Ende unaufhaltsam näher kommen.

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