13. Mamma Mia

1.5K 124 6
                                    

Tom parkte seinen Wagen auf dem grossen Parkplatz vor dem Rathaus und stieg aus. Noch immer in bester Gentleman-Manier ging er ums Auto herum und öffnete Fé die Beifahrertür, sodass auch sie aussteigen konnte. Perplex stand sie da und liess ihren Blick durch das verschlafene Örtchen wandern, als hätte sie noch nie zuvor in ihrem Leben ein Dorf gesehen. Erst dann fiel ihm wieder ein, dass dies ja der Wahrheit entsprach. Irgendwie fühlte er sich ein wenig schuldig ihr gegenüber. Schliesslich hatte er sie in diese Situation gebracht. Andererseits war sie es vorhin noch gewesen, die sie der gesamten Wohltätigkeitsgesellschaft präsentieren wollte, was er selbst eben nicht unbedingt hätte tun wollen. Er gab der Tür einen Schubser und liess sie wieder zufallen, bevor er den Wagen mit Hilfe seines Schlüssels per Fernbedienung abschloss. Bei dem schrillen Doppel-piep-Laut zuckte Fé zusammen und schaute sich erschrocken um, doch Tom legt schützend einen Arm um ihre Schultern und führte sie über den leeren Parkplatz in Richtung Rathaus.

„Das hier ist das bescheidene Newgrange", verkündete er und machte eine ausladende Handbewegung, die den gesamten Ort umfing. Er nahm seinen Arm wieder von ihren Schultern und ging einige Schritte voraus. „Hier ist das Rathaus, dort steht die alte Kirche und in den restlichen Gebäuden befinden sich viele kleinere Geschäfte. Dort zum Beispiel ist der Bäcker und dort hinten..."

Doch mitten in seiner Erklärung hielt er inne, als er bemerkte, dass Fé stehengeblieben war und mit erhobenem Blick und offenem Mund den Kirchturm betrachtete. Die gotische Kirche war bis auf mehrere kleine Sanierungsarbeiten noch genau so, wie sie vor vierhundert Jahren gewesen war. Das war einer der Vorzüge, die Irland bot: Die altertümlichen Kirchen, die über das ganze Land verstreut waren. „Was macht man in einer Kirche?", fragte Adara ohne den Blick von dem imposanten Bauwerk zu wenden. Tom kam wieder einige Schritte zurück. „Beten", antwortete er leichtfertig. „Beten?", wiederholte sie. In dieser Frage lag keine Verständnislosigkeit, vielmehr war es eine subtile Bitte um Erklärung. „Ja", erwiderte er. „Hauptsächlich. Die Leute beten zu Gott, sie bitten ihn um Gesundheit, eine gute Ernte oder um bestimmte Dinge, die sich erfüllen sollen", erklärte er. Fé senkte gedankenversunken den Blick. „Ist dieser Gott nett?", fragte sie nach einer Weile schüchtern. Toms Kopf ruckte zur Seite. Er schaute Fé verwirrt an. Weshalb fragte sie ausgerechnet ihn das? Die Frage schien ihm so kindlich zu sein, dass er schon fast wieder verführt war, zu lachen. „Ich weiss es nicht, Fé. Er hat zumindest noch nie geantwortet. Oder jedenfalls schon seit sehr langer Zeit nicht mehr", erwiderte. Nun war es an ihr, verwirrt zu schauen.

„Und wie wissen sie, ob er sie erhört?", hakte sie nach. „Gar nicht", antewortete Tom leichthin. Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. „Wieso?", fügte er Stirnrunzelnd hinzu. „Meinst du, er würde wohl auch das Gebet einer... nun ja, einer Meerjungfrau erhören, Tom?", fragte sie und schaute ihn flehend aus ihren grossen, dunklen Augen an und es war dieser Blick, der seine Knie weich werden liess. Mit sanfter Stimme sagte er zu ihr: „Ich weiss es wirklich nicht, Fé. Aber ich bin mir sicher, dass er sich sehr darüber freuen würde." „Was macht dich da so sicher?", flüsterte sie. „Ich weiss es einfach", erwiderter er ebenso leise. Er fragte sich, um was Fé wohl bitten könnte. Er selbst war schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr in der Messe gewesen. Als er studiert hatte, hatte er nie Zeit dafür gefunden und seit seine Familie nicht mehr lebte, hatte er einen regelrechten Hass auf die Kirche. Wenn Gott existierte, weshalb hatte er den Tod dieser gottesfürchtigen Leute nicht verhindert? Wenn es Tom getroffen hätte, wäre es verständlich gewesen, er hatte noch nie einen so tiefen Glauben empfunden. Doch seine Familie? Sie waren doch jede Woche zur Messe erschienen. Das letzte Mal, als er die Kirche betreten hatte, lag mehr als ein Jahr zurück. Es war an der Beerdigung gewesen. Er hatte alleine in der ersten Reihe gesessen und hatte die falschen Beileidsbeteuerungen der Leute über sich ergehen lassen müssen, hatte sich anhören müssen, wie der Priester gelogene Worte des Trostes für ihn gesagt hatte. Er hatte daneben gestanden, als die Urnen mit der Asche ins Mausoleum gebracht worden waren. Sie waren alle eingeäschert worden, weil ihre Körper bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren. Niemand hatte genau sagen können, wie viel dieser Asche tatsächlich den Mitgliedern des Right-Clans gehört hatte und wie viel zu den verbrannten Holzbalken und eingestürzten Mauern gehörte. Seither mied Tom die Kirche und den Friedhof, denn trotz seines Namens fand er hier keinen Frieden. Dies lag vor allem daran, dass er sowieso niemals in Frieden gelassen wurde, wenn er sich auf den Friedhof traute, gerade wegen seines Namens. Überall schienen die Leute nur darauf zu warten, dass er sich aus seinem Haus heraus traute. Überhaupt wunderte er sich, weshalb es in den Strassen noch nicht vor Paparazzi wimmelte. Doch darauf wollte er es nicht ankommen lassen, deshalb nahm er Fé bei der Hand und zog sie schnell weiter. Vielleicht würde er mit ihr zusammen eines Tages eine Messe besuchen, ging es ihm durch den Kopf. Vielleicht. Oder auch nicht. Die Sonne schien warm und hell und spiegelte sich dutzendfach in den Fenstern der Häuser. Die kleine Glocke am Eingang läutete, als Tom die Glastür zur Pizzeria öffnete. Hinter ihm trat Adara in den kleinen Laden. Ihnen schlug der Geruch von frischem Brot und gekochten Tomaten entgegen und ihre Mägen reagierten darauf mit zustimmendem Rumoren. Es dauerte nicht lange und ein etwas untersetzter Mann mittleren Alters kam sich die Hände an einem weissen Handtuch abwischend aus der Küche spaziert. „Buongiorno Signori!", rief der Koch, als er hinter der Theke hervorgewuselt kam und sich die luftige weisse Kappe zurechtrückte. „Ciao, Giuseppe!", grüsste Tom den Mann, der zum ersten Mal aufsah und wie vom Blitz getroffen stehen blieb. Unter seinem Dicken Schnurrbart tat sich etwas und Adara erkannte, dass sich ein breites Lächeln abzuzeichnen begann. „Tommy, biste du dase wirkliche?", fragte der Mann erstaunt und kam mit offen Armen auf Tom zu. „Lange nichte gesehene, eh?", fuhr er unbeirrt und mit nicht minder starkem Akzent fort. „Wie geht ese dir? Du warste verschwundene, einfache weg, mi amico!", meinte Giuseppe besorgt und blickte hoch in Toms Augen. Sein Schnurrbartgrinsen war augenblicklich verschwunden. Giuseppe war im Vergleich zu Tom sehr klein, er reichte ihm gerade mal bis zu den Schultern. „Ja", antwortete Tom knapp und trocken. Der Koch bemerkte seinen Fauxpas leidlich spät, versuchte dennoch die Kurve zu kriegen. Auf einmal wandte er sich Adara zu und seine Augen fingen wieder an zu glänzen. „Ah, wen aben wire denn hier?", fragte er freundlich und drückte ihr einen Kuss auf die Hand. Adara kicherte dabei wie ein kleines Mädchen. Der Schnurrbart war warm und mehlig und kitzelte auf der Haut. „Tommy, iste das deine Freundine? Du aste guten Geschmacke, Tommy, guten Geschmacke, sage ich", meinte er spitzbübisch und zwinkerte Tom verräterisch zu. Auch Adara sah Tom an, jedoch mehr verwirrt und fragend. „Nein nein, Giuseppe, wir sind nicht... Das ist nicht... Wir sind nur Freunde", beeilte er sich zu sagen und verhaspelte sich dabei, bis er schliesslich etwas rot anlief. „Nichte?", fragte der Koch bestürzt. „Danne... Danne wirde ese aber schleunigste Zeite, eh?!", rief er aus und verwarf die Hände. Auf einmal schien ihm ein Licht aufzugehen, denn mitten in der Bewegung hielt er inne, riss seine Augen auf und öffnete den Mund. „Oh, entschuldigte! Ich habe ganze vergessene! Was tute hier? Wollen etwas essene, eh? Wollte Pizze? Pasta? Solo un Antipasti? Rina wirde euche bringene alles, was ihre wollte", verkündete er freudestrahlend. Erst jetzt fiel Adara auf, dass niemand sonst im Restaurant war. Sie schaute sich noch ein weiteres Mal um, entdeckte jedoch niemanden. Auch Tom folgte ihrem Blick und wandte sich dann stirnrunzelnd an den Koch. „Giuseppe, läuft es nicht mehr so gut bei dir?", fragte und deutete in den Gastraum. Giuseppe schaute betreten zu Boden und rang die Hände wieder im Handtuch. „Tommy, iste nichte nure bei dir schwierige Zeitene gewesene. Leute kommene nichte mehr viele hierher, seite deine Elterne...", versuchte er zu erklären und schaute entschuldigend drein. Tom schüttelte sich kaum merklich. Als wollte er die Erinnerungen abschütteln und setzte ein Lächeln auf, als er in die Hände klatschte. „Na, dann bring uns doch zweimal die Krabbensuppe, die Tagliatelle con Gambieri al Limone für mich und... Fé? Was möchtest du haben?", wandte er sich plötzlich an sie. Dieser Themenwechsel war ihm nicht sonderlich gut gelungen, aber weder sie noch der Italiener wandten etwas dagegen ein. Auch sie waren irgendwie froh darum, nicht schon wieder auf dieses Thema zu stossen. Adara war wie versteinert und schaute verdutzt zwischen den Männern hin und her. „Ähm, ich?", piepste sie unbeholfen und Tom kam ihr zu Hilfe. „Und für die Dame, ähm, die Ravioli al Ricotta è spinacci", schloss er. Adara war erstaunt. Tom musste schon sehr oft hier gewesen sein, wenn er ohne das Angebot gesehen zu haben wusste, was er bestellen wollte. Er hatte für sie gefüllte Teigtaschen mit Frischkäse- und Spinatfüllung bestellt, während er selbst irgendetwas mit Shrimps an Zitronensosse wollte. Was waren bloss Tagliatelle, fragte sie sich. Der Koch klatschte freudig strahlend in die Hände und huschte dann wieder um die Theke und verschwand in der Küche. Man hörte ihn noch gedämpft rufen: „Rina! Rina, Bestellungene! Andale andale! Tommy iste wieder da!"

Mermaid SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt