15. Wieder in Sicherheit

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Er liess Fé aussteigen und parkte sein Auto wieder in der Hütte. Sorgfältig breitete er die gräulich grüne Plane wieder über der Motorhaube aus und zog sie bis zum Heck nach. Er war sich sicher, den Wagen so schnell nicht mehr in Gebrauch zu nehmen, auch wenn es ihm eigentlich schon Spass machte. Aber das Risiko, noch einmal in einen Paparazzi-Auflauf zu geraten, war einfach zu hoch, besonders für Fé. Und leider tauchten diese Kerle immer dort auf, wo ein knallroter Ferrari geparkt war. Merkwürdig. Tom grinste bitterlich. Sein geliebtes, kleines Statussymbol brachte ihm nichts als Ärger. Mit einem letzten, beinahe liebevollen Blick auf seinen Wagen schloss er die maroden Torflügel wieder und sperrte sie mit einem dicken Schloss ab. Dann drehte er sich zu Fé, die wie ein braves Schulmädchen auf ihn gewartet hatte, um und fragte: „Können wir?" Sie nickte und ging vor, Tom folgte. Erst jetzt bemerkte er, dass sie noch immer keine Schuhe trug und bekam ein schlechtes Gewissen. Er hatte sie über Kies und durch schmutzige Strassen gezogen, sie in ein Restaurant geschleppt und an einer Kirche vorbeigeführt und das alles barfuss. Er zückte seinen Schlüsselbund und schloss die Haustür auf. Drinnen klingelte das Telefon sturm und er beeilte sich, den Hörer in die Hand zu nehmen. Die Schlüssel landeten dabei unbeachtet auf der Couch. „Ja?", keuchte er ins Telefon, hörte kurz zu, legte die Stirn in Falten und brüllte dann in den Hörer: „Lassen Sie mich endlich in Ruhe!" Dann stellte er das Telefon wütend in die Station zurück, doch noch bevor er es losgelassen hatte, klingelte es erneut. Tom hatte keine Lust auf dieses Spiel, er kannte es schliesslich zur Genüge. Stattdessen ging er zur Steckdose und zog den Anschluss raus. „So, das dürfte fürs Erste genügen", meinte er triumphierend und hielt den Stecker in die Höhe. Adara schaute ihn lediglich verwirrten Blickes an. „Und was soll das sein?", fragte sie schlicht. „Das ist ein... ein Telefonstecker. Damit ist dieses Gerät da an das Telefonnetz angeschlossen und man kann mit Leuten aus der ganzen Welt sprechen", erklärte er und zeigte auf die Telefonstation. Er beobachtete Fé dabei, wie sie von ihm zum Telefon schaute und wieder zurück. Dazwischen blieb ihr Blick einen langen Moment auf dem Kabel in seinen Händen ruhen. Sie wiederholte flüsternd seine Worte. „Auf der ganzen Welt." Ihre Augen starrten zwar auf den Draht, doch geistig war sie wieder weit weg. So weit fort, dass Tom erst nach einem Moment verstand, wo genau sie mit ihren Gedanken war. Und er begriff. „Das geht aber nicht unter Wasser", meinte er vorsichtig und suchte ihren Blick mit dem seinen. Fé's Lippen öffneten sich einen Spalt weit, schlossen sich aber langsam wieder. Sie blinzelte und kaum einen Augenblick später war sie wieder bei Tom im Jetzt und Hier. Als wäre sie gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht, schaute sie ihn fragend an. So, als hätte er etwas zu ihr gesagt und sie es versäumt hätte, ihm zuzuhören. „Ist nicht so schlimm", hauchte sie dann. Toms Hand sank an seinem Körper hinunter und liess das Kabel schlussendlich ganz los. „Komm, wir machen uns einen Film-Abend, das lenkt ab und lässt die Zeit dahinschmelzen", meinte er ruhig und ging einen Schritt auf Fé zu. „Einen Film-Abend?", fragte sie und legte dabei die Betonung auf das Wort „Abend". Tom schaute auf die Uhr an der Wand. Zwei Uhr Nachmittags. „Egal, wir dunkeln den Raum einfach ab", erklärte er und drückte einen gelben Knopf auf der Fernbedienung, die auf dem gläsernen Couchtisch ruhte. Sofort erklang ein mechanisches Summen und dunkle Vorhänge schienen aus der Wandverkleidung zu spriessen, überzogen die Fenster und verbannen das meiste Licht aus dem Wohn- und Essbereich. Fé wirkte erschrocken und fasziniert zugleich, als sie das Schauspiel beobachtete. Sie drehte sich erstaunt um. „Möchtest du Popcorn?", fragte Tom sie mit beinahe gleichgültig normaler Stimme. Er versuchte den Vorfall ihr gegenüber zu überspielen, ihr wortlos zu versichern, dass es ihm gut ging. Aber das tat es nicht und sie spürte das. Er war auf brutalste Weise an den Vorfall vor einem Jahr erinnert worden und hatte darüberhinaus noch ein schlechtes Gewissen, weil er sie in dieselbe Situation gebracht hatte. Es konnte ihm gar nicht so gut gehen, wie er vorgab. Er hatte einfach die schwarze Schnur von diesem Apparat aus der Wand herausgerissen und sie achtlos baumeln lassen. Dieses Telefon, das ihn mit allen Menschen auf der gesamten Welt hätte verbinden können, verschmähte er und zog stattdessen die Isolation und die Einsamkeit vor. Er zog ihre Anwesenheit vor. „Was ist Popcorn?", fragte sie aber nur. Tom winkte ab. „Ich zeig's dir. Es ist Mais, der aufpopt und weich wird, wenn er zu heiss wird." Er betrat die Ebene, auf welcher die Küchenzeile stand und legte zwei flache Tüten in die Mikrowelle. Die Maschine piepte, als er den Timer einstellte. Dann surrte es dumpf und Tom kehrte zu Adara zurück. „Welchen Film möchtest du schauen?", fragte er weiter, ging vor einem hüfthohen Schrank, auf welchem eine Pflanze in einem Blumentopf stand, in die Knie und öffnete die Schranktüren. „Was ist ein Film?", erwiderte Adara. „Ich zeig's dir. Es sind bewegte Bilder. Leute wurden in ihren Bewegungen aufgenommen und nun kann man diese Bilder immer wieder anschauen, selbst wenn die Schauspieler schon verstorben sind." Adaras Blick ruhte auf Toms Hinterkopf, als versuchte sie, seine Gedanken zu lesen. Auf einmal war er so anders. Kalt und in einer Form abweisend, die sie nicht ganz verstand. „Was sind Schauspieler?" Sie setzte sich aufs Sofa und wartete. Tom zog eine verstaubte Videokassette aus dem Regal und wiegte sie sorgsam in seinen Händen, bevor er sich zu Fé umdrehte. Sie fühlte sich so dumm und nutzlos, all diese Fragen zu stellen und scheinbar überhaupt nichts zu begreifen. Er hatte ihr gesagt, sie solle ihr Gesicht verdecken, wenn sie das Restaurant verliessen, aber sie hatte es nicht getan. Wie nutzlos sie doch war. „Ich würde gerne diesen Film mit dir schauen", meinte er und zeigte ihr die Hartplastikhülle. Vor blauem Hintergrund sass ein Mädchen mit langem, rotem Haar und einer zierlichen, grünen Schwanzflosse auf einem Felsen. Adara schaute auf. Toms Augen verrieten seine innere Zerrissenheit. So sehr ihn die letzten Stunden auch aufgewühlt hatten, wollte er sie doch nicht verschrecken. Weder mit seiner Vergangenheit, noch mit seinem gesellschaftlichen Status. Doch er wusste zwei Dinge nicht über sie. Erstens hatte sie in seine schlimmsten Albträume geblickt und wusste sehr genau, was er durchgemacht hatte. Ja, sie verstand ihn, vielleicht sogar besser noch, als er sich selbst verstand. Und zweitens war sie selbst eine Prinzessin. Sie konnte gar nicht abgeschreckt werden, selbst wenn er ein König gewesen wäre. Sie rechnete es ihm jedoch in einer Weise hoch an, dass er ihr zuliebe die Fassade aufrechterhielt und sich nicht vor ihr seiner Ohnmacht und Verzweiflung hingab. Vielleicht war auch sie der Grund, weshalb er es nicht tat. Womöglich was sie nun der Anker, der ihn wieder ans Leben band, dachte sie sich. Und selbst wenn es seltsam dumm klang, schwachsinnig und mehr als unwahrscheinlich, wäre es eine Erklärung dafür, dass Tom seit Tagen so zuvorkommend und liebenswürdig war. Weil er seinem Leben durch sie einen neuen Sinn geben wollte. Oder konnte. „Sie ist so...", sagte sie leise. Tom legte erwartungsvoll den Kopf schief. „Sie ist so wie ich", meinte Adara. Er lächelte sanft. Am Liebsten hätte er ihr gesagt, wie sehr sie sich doch irrte. Wie viel schöner und anmutiger sie war und wie sehr er ihr dankte, dass sie in sein erbärmliches Leben getreten war. Doch er sagte es ihr natürlich nicht. Er würde erst sein Leben wieder auf die Reihe kriegen. Und diesen verdammten Drogentest machen. Er legte die dicke, schwarze Kassette in den alten Rekorder ein, der seit Jahren mehr als Staubfänger fungiert hatte und drückte auf „Play". Die Vorschau erschien auf dem riesenhaften Fernsehbildschirm und kündigte den „baldig erscheinenden" Katzenfilm „Aristocats" an. Wie Tom Katzen hasste. Er bevorzugte... Fisch. Ein sanftes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht und am liebsten hätte er sich in diesem Moment zu Fé umgedreht. Die Mikrowelle Piepte und er richtete sich auf, ging am Sofa vorbei und holte die zwei aufgeblähten Tüten aus dem Elektrogerät. „Ich bin gleich wieder da", meinte er zu Fé, die den Kopf drehte und nickte, dann verschwand er in Richtung Bad. Zwei Wisch- und je einen Blut- und Urintest später war sich Tom endgültig sicher, nicht unter wahrnehmungsverändernden Medikamenteneinfluss oder sonstigen Bewusstseinsmodifizierenden Chemikalien zu stehen oder gestanden zu haben. Er stand auf das Waschbecken gestützt da und schaute in den Spiegel, betrachtete sein Gesicht, seine grünen Augen, unter denen zum ersten Mal seit Monaten keine dunklen Ringe zu sehen waren. Blieb nur noch eine Frage im Raum: Wer hatte den Medien gesteckt, dass er in Newgrange gewesen war? Doch nicht etwa Giuseppe? Er war doch kein Verräter, er würde so etwas niemals tun. Tom trocknete seine Nassen Hände mit einem Handtuch ab, warf die Tests, die ihm versichert hatten, nicht in die Drogensucht abgerutscht zu sein, in den Mülleimer und verliess das Badezimmer. Als er die Tür hinter sich schloss, fand er sich auf dem stockdunklen Flur wieder. Ausser dem flackernden, blauen Licht aus dem Wohnzimmer, das die Silhouette eines Mädchens erhellte, war keine Lichtquelle vorhanden. Zielsicher schritt Tom auf das Licht, den Fernseher zu, schnappte sich die beiden Popcorn-Packungen und gesellte sich zu Fé auf die Couch. Er setzte sich neben sie und hielt ihr die warme Papiertüte hin. Der Geruch gesalzenen und erhitzen Maises machte sich in seiner Nase breit. Auch Fé schnupperte an der Tüte, hob die Hand und griff in die Packung. Ohne ein einziges, fragendes Wort zu erwähnen. Seltsam. Wie schnell sie sich an seine Welt zu gewöhnen schien. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, nahm sie an, was er ihr gab und ohne nachzufragen, ass sie davon. Es war, als ob der heutige Vorfall sie ein Stück weit an ihn gebunden hätte. Er bedachte Fé mit stummen Blicken, während sie ohne jegliche Gefühlsregung auf den flackernden Bildschirm starrte und sich von Zeit zu Zeit eine Hand voll Popcorn aus der Tüte nahm. Der Film war alt und ab und an huschten schwarze und weisse Flecken über das rote Haar der Zeichentrickfigur. Tom hatte die Meisterwerke von Walt Disney schon immer geliebt und Arielle, die kleine Meerjungfrau war immer einer seiner Lieblinge gewesen. Welche Ironie. Er hatte diesen Film einst geliebt, wie er das Meer geliebt hatte. Wie er sein Leben geliebt hatte. Nun erschien es ihm kindisch und dumm, solchen Erinnerungen nachzuhängen. Obwohl Fé nun bei ihm war und es ihm dadurch etwas besser ging. Obwohl er begann, das alles langsam aber sicher zu verarbeiten. „Hat er dir gefallen?", fragte er Fé, als der Abspann über den einhundertzwanzig Zoll Flachbildfernseher glitt. Adara nickte langsam. Sie verstand weder, wie die Bilder in den Apparat kamen, noch wie man ihn bediente, doch es faszinierte sie ungemein. Allerdings war die Geschichte, die erzählt wurde, nicht sehr wahrheitsgetreu. Läge der Palast und die Stadt so nah an der Wasseroberfläche und vor allem so nah an der Küste, wären sie schon lange entdeckt worden. Nein, die Meermenschen versteckten sich um einiges besser. Im Untergrund, in Unterwasserhöhlen unermesslichen Ausmasses lag ihre geheime Stadt tief unten im Meer, dort, wo erst nach der absoluten Dunkelheit verzauberte Kristalle wieder licht spendeten. Sie lebten an Orten, an denen noch kein Mensch je gewesen war. Und die Kelp-Felder schützten sie. Und doch war es bei ihnen taghell. Leuchtend blau und weiss schimmerten die Edelsteine und vertrieben alles Dunkel aus ihrer Umgebung, so wie es über der Wasseroberfläche die Sonne tat. Und eines noch: Die Fische konnten nicht sprechen. Sie blubberten allerhöchstens ab und an. Doch das konnte sie Tom ja nicht sagen. Weder, dass sie in hellerleuchteten Unterwasserhöhlen unter dem Meeresgrund lebte, noch dass fische eigentlich gar nicht sprechen konnten. Doch was hätte sie sonst sagen können? Sie mochte diesen Film, weil er in einer sehr abgewandelten Form ihre eigene Geschichte zeigte. Gut, es gab keine böse Meereshexe und auch keinen magischen Dreizack, der Fische in Menschen und Menschen in grüne Algentierchen verwandelte. Und es gab auch kein Schloss am Meer und keinen Prinzen, der verzaubert wurde und den sie retten musste. Es gab aber Tom und seine überschaubare, kleine Hütte oben auf den Klippen. Das war's. „Können wir noch einen schauen?", fragte sie, um die peinliche Stille zu brechen und wenigstens etwas zu sagen. Tom nickte ruhig. Er stand auf und legte die halb volle Tüte gepoppten Kornes auf den Glastisch mit Holzfassung. Als sie das sah, fühlte sie sich fast ein bisschen schlecht, da ihr eine gähnende Leere entgegenblickte, wenn sie in ihre eigene Tüte schaute. Wie verfressen sie doch geworden war, seitdem sie an Land war. „Was möchtest du schauen?", fragte Tom über die Schulter. Er war wieder in die Knie gegangen und hockte vor dem Gestell, an dessen Seite das lose Telefonkabel herunterbaumelte. Adara bedachte Tom mit einem Blick, den dieser leider nicht sehen konnte, aber der jedoch den typischen „Ach-das-ist-wieder-typisch-Tom-aber-irgendwie-süss-dass-er-mich-wie-einen-Menschen-behandelt"-Ausdruck hatte. „Entschuldige", kam es kurz danach kleinlaut vom Regal her. Er erhob sich wieder und brachte einen Stapel DVD-Hüllen zu Fé herüber. „Die solltest du unbedingt sehen. Das sind so ziemlich die besten Filme, die es gibt", meinte er nur und stellte den kleinen, wackelnden Turm auf der Glasfläche des Kaffeetisches ab. Seine Mundwinkel zuckten wieder und Fé fragte sich, ob er wohl je richtig lächeln würde. Fröhlich, verstand sich. „Das sind ‚Pretty Woman' ‚Flashdance' ‚E.T.' ‚Titanic' ‚Marry Poppins' alle ‚Harry Potter'-Verfilmungen ‚James-Bond - Royal Casino' ‚the Transporter' ‚Avatar' und natürlich die ‚Herr der Ringe'-Saga", verkündete er stolz und hielt dabei jeden Film demonstrativ in die Höhe. Mit all diesen Namen konnte Adara recht wenig anfangen. Doch wenn sie sich die Höhe des Stapels anschaute, überkam sie das seltsame Gefühl in der Magengrube, das ihr sagte, dass sie so schnell nicht wieder von diesem Flimmerkasten loskommen würde. Und sie würde rechtbehalten. Während Tom den nächsten Film einlegte, machte sie es sich bequem und suchte sich ein Kissen. Und so ging es den ganzen Nachmittag lang. Ein Film nach dem anderen wurde eingelegt, ein Film nach dem anderen wurde aus dem DVD-Player herausgeholt. Der Abend kam und ging und noch immer wurden Filme ein- und ausgespielt. Gegen elf Uhr abends, die beiden hatten jegliches Zeitgefühl verloren, legte Tom den Herr der Ringe Teil eins ins Lesegerät des Players und drückte auf Play. Fé war auf der Couch eingenickt, aber er konnte und wollte noch nicht schlafen. Heute war einfach zu viel passiert, als dass er schon hätte schlafen können. Zur Titelmusik setzte er sich neben die schlafende Fé, der er einen liebevollen Blick zuwarf. Dann richtete er seine Konzentration wieder auf den Bildschirm. Ihm kreisten tausend Gedanken im Kopf. An diesem Tag hatte er zum ersten Mal seit einem Jahr sein Grundstück verlassen, seinen Lieblingsitaliener besucht, dem er noch zwei Dreigänge-Menüs schuldete. Er hatte Newgrange besucht, war seinen Ferrari gefahren und hatte sich daran erinnert, weshalb er die Presse hasste und das alles hatte er mit einer Person erlebt, die ihm trotz ihrer unterschiedlichen Lebensart so unglaublich ähnlich war, dass er sie am liebsten niemals wieder gehen lassen würde. Wenn doch nur die Medien nicht wären. Wenn er einfach sein ganzes bisheriges Leben hätte auslöschen können und nochmal von ganz vorne angefangen hätte. In Ruhe, alleine. Mit Fé. Sie war die einzige, die ihn behandelte wie einen Menschen. Nicht wie einen Gott. Oder wie ein Monster. Ihm fiel auf, dass sie fröstelte. Vorsichtig zog er die Wolldecke zu sich herüber und legte sie sorgsam über Fé. Ihr Kopf glitt auf seine Schulter ohne dass sie erwachte und Tom machte keine Anstalten, ihn von seinem Platz wieder zu entfernen. Noch während Gandalfs Ansprache auf Bilbos Geburtstag kippte auch Toms Kopf nach hinten und blieb auf der Rückenlehne ruhen. Ein markerschütterndes Brüllen liess Adara und Tom aus ihrem Schlaf schrecken. Dabei flog die Popcornpackung in die Luft und verteilte ihren Inhalt quer über dem Boden. Einen Moment später folgten die berühmten Worte: „You shall not pass!" Die beiden Schlaftrunkenen atmeten erleichtert aus und Tom schlug schliesslich vor, den Flimmerkasten endgültig auszuschalten, woraufhin Fé nur zustimmend nicken konnte und von Tom abrückte. Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckt hatte. Von dem Gebrüll einer Feuerbestie aus dem Schlaf gerissen zu werden oder sich bewusst zu werden, dass sie die Nähe eines Menschen so sehr genossen hatte, dass sie auf dessen Schulter hatte schlafen können. Und erst jetzt bemerkte sie, dass Toms Arm auch auf ihrer Schulter lag und er ihn nun bewegte. Für ihn mochte es aussehen, als wäre sie desorientiert, doch Adara war sich bewusst, wo sie war und was passiert war. Sie fing Toms zärtlichen, erstmals fürsorglichen Blick auf und stammelte eine Entschuldigung. „Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, Fé", meinte Tom erstaunt und lächelte beschwichtigend. Dennoch verspürte sie den Drang dazu. Einerseits, weil sie befürchtete, dass sie in ihm falsche Hoffnungen weckte, andererseits, weil es ihr auch peinlich war. In ihrem Kopf hämmerte die Stimme ihres Vaters. Und in dessen einnehmender, tiefer Stimme wiederholten sich die immer gleichen Sätze. „Eine Meerjungfrau sollte keinem Menschen vertrauen. Ein Mensch bedeutet immer Gefahr." Und nach und nach vermischten sich diese Sätze mit Filmparolen, bis die Stimme ihres Vaters schliesslich „Yous hall not pass!", schrie. „Fé", raunte Tom und rüttelte sanft an ihrer Schulter und wieder schrak Adara aus dem Schlaf auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sie wieder eingedöst war, doch Tom schaute sie noch immer erwartungsvoll an. Der Fernseher war ausgeschaltet, das Telefonkabel hing noch immer leblos an der Kommode hinunter. „Was, wie bitte?", fragte sie gehetzt, tonlos. Noch halb im Schlaf. „Ob du hier schlafen willst, oder im oberen Stock ein Bett beziehst", wiederholte Tom ruhig und schmunzelte. Adara stutzte. „Oben? Die Zimmer deiner... deiner", stammelte sie und wusste nicht, wie sie dieses Angebot auffassen sollte. „Ich denke, es ist Zeit, die alten Geister in Frieden ruhen zu lassen und sich nicht an jedes Detail zu klammern", meinte er nur. „Ausserdem will ich dich nicht unbedingt weiterhin auf dieser alten Couch schlafen lassen. Das ist nicht gerade", meinte er und schürzte die Lippen „Gentlemanlike. Du hast also die Wahl." Doch Adara schüttelte sanft den Kopf und lächelte sachte. „Nein, es... Es ist wirklich in Ordnung. Ich schlafe gern hier", versicherte sie ihm. Ihr war nicht klar, welche Vorgänge ihre Blicke in Tom auslösten, sonst hätte sie ihn sicherlich nicht auf diese Weise angeschaut. Nach einem etwas zu langen Moment der Stille räusperte er sich schliesslich und erhob sich, übergab Fé die Wolldecke und wünschte ihr eine gute Nacht, bevor er im Gästezimmer verschwand. Die Tür liess er offen, ob beabsichtigt oder nicht wusste er selbst nicht so genau. Einerseits wollte er Fé die nötige Distanz geben, die sie offensichtlich wünschte, andererseits suchte er seltsamerweise ihre Nähe, wie er es noch bei keinem zuvor getan hatte. Im Wohnzimmer brannte noch Licht, als er sich zu Bett legte und auch Adara sass noch wach auf der Couch und fragte sich insgeheim, was gerade passiert war. Sie strich sich eine einzelne Haarsträhne aus der Stirn und dachte darüber nach, wie wenig sie Toms Nähe eigentlich gestört hatte. Doch bald legte auch sie sich schlafen und löschte das Licht der kleinen Lampe, die auf dem Beistelltisch stand. Auf dem Boden verteilt lag noch immer eine Menge Popcorn. Und während sie schon längst wieder eingeschlafen war und ruhig und friedlich döste, lag Tom in seinem Bett noch lange wach und starrte durchs Fenster in den abendlichen Sternenhimmel, der sich wie ein grosses, schwarzes Zelt über die Welt zu spannen schien. Von seinem Zimmer aus hatte er einen wunderbaren Ausblick auf die Milchstrasse. Auf einmal drängte sich ihm de Frage auf, weshalb er das nicht schon viel früher bemerkt hatte, doch die Antwort darauf schob er schneller beiseite, als dass er hätte zum Türrahmen schielen können. Ihm kam in diesem Moment wieder in den Sinn, was ihm seine Mutter früher, als er noch ein Kind gewesen war, immer gesagt hatte, wenn sie den abendlichen Himmel betrachtet hatten. Er dachte daran, dass sie immer auf einen kleinen, nur schwach leuchtenden Stern gedeutet und gemeint hatte: „Das dort oben ist dein Stern, mein kleiner Tommy. Dieser Stern wird dich immer begleiten und bist du einmal in der Situation, dass du nicht mehr weißt, was gut und schlecht ist oder du nicht weißt, wie du dich entscheiden sollst, dann schau in den Himmel und such deinen Stern, Tommy. Die Sterne weisen uns immer den Weg. Immer." Und nun fragte sich Tom, wie ihm dieser kleine, so weit entfernte Stern dabei helfen sollte, sich zu entscheiden. Er schaute noch immer in den Himmel. Er würde „seinen" Stern immer wiederfinden. Er war derjenige, der diagonal, etwa eine handbreit rechts über dem Oriongürtel lag, etwa drei Finger breit rechts der Spitze, die Orions Pfeilspitze darstellte. „Was soll ich bloss tun?", flüsterte er dem Stern in weiter Ferne zu.

Mermaid SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt