Flügelschläge

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Das hier ist eine Art Kurzgeschichte zur Vorgeschichte von Elissa! Nicht wundern!^^

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Wer bin ich?

Hast du dir diese Frage schon einmal gestellt? Ich vermute, dass die Antwort darauf Ja lautet, du hast das bereits getan. Und wenn nicht, dann wirst du sie dir irgendwann stellen, weil jeder sich dieser einen, alles bestimmenden Frage mindestens einmal in seinem Leben widmen muss.

Bei mir war es heute soweit.

Wie jeden Tag saß ich in meinem Internatszimmer und habe Hausaufgaben gemacht, meinen Blick stur auf das weiße Blatt vor mir gerichtet. Die Aufgabe war eine Abhandlung darüber zu schreiben, was ich bin.

Diese Frage wurde mir, wie so viele andere, praktisch jeden Tag meines Lebens beantwortet, auch wenn ich nie danach gefragt habe. Alle 24 Stunden aufs Neue wurde ich mit der Antwort bombardiert, die ich schon beim ersten Mal begriffen hatte, nämlich, dass ich ein Mischling war. Zum Teil Sirene, zum Teil Halbgott.

Eigentlich hätte sich die Hausaufgabe wie von selbst erledigen müssen, denn ich wusste, was ich war und was ich konnte. Auch das hatte man mir oft genug verdeutlicht. Ich konnte singen, wie alle Sirenen. Ich konnte Männer ins Verderben stürzen allein mit meiner Stimme, so wie, den Mythen nach, es meine Vorfahren getan hatten.

Aber das war noch längst nicht alles. Das Halbgottblut in mir, befähigte mich dazu schneller zu rennen, als der Schall und mehr zu sehen und zu hören, als jedes andere Lebewesen, das auf dieser Erde wandelte. Aber das Beste - oder das Schlimmste, je nach Sichtweise - war, dass ich die Herzen von Menschen beeinflussen konnte. Das war eine Gabe, die nur die Kinder der Aphrodite beherrschten. Schon vor langer Zeit hatte ich gelernt, welche Verantwortung damit einherging, denn diese außerordentliche Macht war nicht nur dazu fähig Gutes zu tun. Ebenso konnte sie - genau wie meine Stimme - einen Menschen zu Grunde richten.

Und noch etwas wusste ich. Ich wusste, wie ich war. Denn wie ich, waren alle Halbgötter. Wir waren schön, schöner als der Durchschnittsmensch und ebenso klüger als die anderen. Praktisch eine Art Übermensch, auf die die Schicksalsgöttinnen, die Parzen, ein ganz besonderes Augenmerk gelegt hatten. Jeder von uns hatte ein Schicksal, ob wir wollten oder nicht. Wir konnten uns trotz unserer Kräfte nicht dagegen wehren. Wir waren zwar stark und mächtig, aber doch hilfloser, als alle anderen. Und auf mich hatten sie es besonders abgesehen. Eben weil ich war, was ich war.

So saß ich nun in dem kleinen, in kaltem weiß gestrichenen Raum und starrte auf das leere Blatt, ohne auch nur die kleinste Ahnung davon zu haben, was ich schreiben sollte. Denn das konnte es doch nicht sein, oder? Nur zu schreiben, was ich war. Ich war mehr, als die Summe meiner Äußerlichkeiten, meiner Kräfte. Interessierte das niemanden? War es denn nicht wichtig, wer ich war?

Wie allgemein bekannt ist, werden junge Vögel erwachsen, wenn sie gelernt haben zu fliegen. Sie werden selbstständig und lassen ihr altes Leben und das elterliche Nest, ihre Heimat zurück. Sie starten in ihre Zukunft. Und zwar allein.

Ich bin mir sicher, dass Jungvögel sich die selbe Frage stellen, bevor sie den ersten Flug wagen. Sie fragen sich: Wer bin ich? Genau, wie ich es jetzt tue. Nur haben sie, im Gegensatz zu mir, eine Antwort darauf. Ich denke, sonst würden sie nicht losfliegen.

Aber ich habe keine andere Wahl. Ich muss fliegen lernen ohne eine Antwort, ohne zu wissen, wer ich bin.

Deshalb sitze ich allein auf einem harten Felsvorsprung, unter mir der Abgrund und das Meer. Ich bin hierher gekommen, um zu fliegen, obwohl ich nicht weiß, wer ich bin. Denn mir ist klar, wenn ich es jetzt nicht wage, werde ich niemals mehr den Mut dazu aufbringen.

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