Bild: Sally (Leyas Mutter)
Das laute Klopfen ihrer Mutter an der Tür riss Leya aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie schnaufte ein müdes „Herein", nachdem sich ihr Herzschlag, der sich noch an die Panik und die Gefahr von gestern erinnerte, beruhigt hatte.
Sally erschien mit einem Wäschekorb in dem Zimmer. In der Hand der kleinen Frau mit den rotbraunen Haaren lag ein Zettel, etwas Kleingeld und Leyas Handy.
„Schatz, nur so eine Idee für die Zukunft, aber wenn du deine Handtasche schon gern von der Waschmaschine zerfetzen lassen willst, dann nimm wenigstens dein Handy und alle ergatterten Nummern von irgendwelchen Jungs raus, in Ordnung? Deine Tasche liegt im Bad."
Verdattert nickend beobachtete sie, wie ihre Stiefmutter die Sachen auf den weiß-schwarzen Nachttisch neben ihr Bett legte und dann aus dem Raum verschwand. Die Tür fiel hinter ihr zurück ins Schloss.
Leya hätte schwören können, dass sie ihre Tasche gestern in der Tanzschule an dem Tisch liegen gelassen hatte, nach ihrer übereilten Flucht vor David und Cal und dem ganzen furchtbaren Abend. Wie war sie also hergekommen? Und von welchen ergatterten Nummern sprach ihre Mutter bitte? Sie war in einem mit Pärchen vollgestopften Saal an einem Tisch komplett von der Außenwelt isoliert mit einem verrückten Jungen gesessen. Sie war nicht mal dazu gekommen was zu trinken, geschweige denn mit jemandem zu flirten...
Erschrocken weiteten sich ihre Augen. Mit zittrigen Händen griff sie ungeschickt nach dem Zettel. In großen, geschwungenen Buchstaben war Cals Name, eine Telefonnummer, der Vermutung nach seine eigene, und eine Adresse zu sehen.
Wie hatte dieser Psycho den Zettel in ihre Tasche bekommen und wie war ihre Tasche in der Wäsche gelandet, wo ihre Mutter sie natürlich finden musste?
Leyas Blick huschte misstrauisch von ihrem Fenster zu ihrer Tür. Sie schoss zu den Vorhängen, zog sie zu bis kein Strahl Morgenlicht mehr in ihr Zimmer kam, dann verbarrikadierte sie die Tür mit einem Holzstuhl.
Ja, vermutlich war es reichlich paranoid, was sie gerade tat, aber sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so bedroht in ihrem eigenen Zuhause gefühlt. Doch diese Nachricht... Und das was gestern geschehen war nach ihrer Karaokeeinlage...
„Verdammte Scheiße." Super. Jetzt hatte sie eine Panikattacke. Wiedermal. Häufte sich in letzter Zeit ganz schön.
Sie hörte ihren eigenen Herzschlag überdeutlich, ihr Körper zitterte und sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. War das eine normale Reaktion, wenn man realisiert hatte, dass man eventuell einen Stalker hatte, der auf unerklärliche Art und Weise in das eigene Haus einbrechen konnte? Vermutlich schon.
Leya sank zu Boden, weil ihre Knie einfach nachgaben als wären sie aus Pudding und rollte sich zu einer kleinen, menschlichen Kugel zusammen. Die Erinnerungen von gestern Abend vermischten sich mit den Erkenntnissen von heute zu einem traumatisierenden Brei.
In ihren Gedanken blitzten immer mal wieder zwischen einzelnen Bildern Fragen auf: Wer war Cal? Wer oder was waren diese komischen Stimmen? Woher waren die mit ihnen zusammenhängenden Schmerzen gekommen? Wieso hatte David – der liebe, freundliche David, der ganz klar auf Angel stand – sie gestern Abend – es gab nun einmal kein anderes Wort dafür – vergewaltigen wollen? Warum hatte Cal – der vermeintliche Stalker - sie gerettet und dann gehen lassen? Und wie, um Himmels Willen, hing alles zusammen?
Oh Gott. Sie würde ja mal so was von eine Therapie brauchen.
Nachdem sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte, beäugte sie den beschriebenen Papierfetzen, den sie vorhin auf ihr Bett hatte fallen lassen.
Sollte sie anrufen oder nicht? Vielleicht würde das Cal erschrecken und er würde abhauen oder er hatte ein paar Antworten auf ihre Fragen... Jedoch konnte er sich, zusätzlich zu seinem Stalkertum, auch noch als psychotischer Killer herausstellen, der ihr und David gestern irgendetwas eingeflößt hatte, damit Cal sie retten konnte und als Held dastand, nur damit sie ihm vertraute bis er sie schließlich aufschlitzte und als Puppe oder so was benutzte. Immerhin hatte der ganze Spuk angefangen, als er aufgetaucht war.
Allerdings sprach gegen letzteres, dass in ihrem Leben keine psychotischen Mörder und ähnliches existierten, weil ihr Leben – kurz gesagt – stinklangweilig war. Darüber war sie eigentlich ziemlich froh. Langeweile war ihr allemal lieber als ein psychotischer Mörder.
Leya schüttelte ihren Kopf bis ihre Gedanken nicht mehr ganz so abstrus waren. Was hatte sie nur für Ideen?! Sie musste aus dem Zimmer raus. Am besten wäre es, wenn sie einen kleinen Spaziergang zu den Klippen machte. Da konnte sie sich konzentrieren, frische Luft schnappen und über die Mörder-Theorie weiter nachdenken.
Leya zog sich eine dunkle Jeans und ein Top an – ein Vorteil davon in Italien zu wohnen war, dass sie auch im tiefsten Winter halbwegs sommerliche Kleidung tragen konnte. Das Handy steckte sie sich in die Hosentasche. Als sie schon halb zur Tür raus war, kam ihr eine Idee. Falls ihre wirren Theorien doch einen wahren Kern hatten, sollte sie sich vielleicht etwas mitnehmen, was bedrohlicher war als ein Schlüssel.
Nach kurzem Wühlen in der Kommode auf der die Schlüssel lagen, fand Leya, was sie gesucht hatte, nämlich ein schönes, handliches Pfefferspray, das sie sogleich in ihre hintere Hosentasche gleiten ließ.
Umso näher sie den Klippen kam, desto ruhiger wurde sie, was unter anderem damit zusammenhing, dass diese sich in der entgegengesetzten Richtung von der Adresse auf dem Zettel befanden.
Auf ungefähr der Hälfte des Wegs fing Leya an durch den Wald zu joggen. Sie konnte diese Sportart zwar nicht ausstehen, aber das war die einzige, die ihr gerade zu Verfügung stand um sich abzureagieren. Also lief sie zwischen Sträuchern, Gras und Bäumen einen ausgetretenen Weg entlang bis sie die Klippen erreichte.
Am Ende der nach Verlassen des Waldes ebenen Landschaft sah es aus als hätte ein Riese in den Stein gebissen. Von einem Zentimeter auf den anderen war plötzlich kein Boden mehr da. Wenn man zu nah an den Abgrund trat, konnte es leicht passieren, dass ein Windstoß einen über den Rand pustete.
Pfeifender Wind und sich am Stein brechende Wellen erfüllten die Luft mit ihrem Gesang. Eigentlich war dieser Ort, der voller Naturgewalten und Gefahren war, für viele beängstigend. Die meisten Dorfbewohner mieden es tunlichst hierher zu kommen. Aus unerfindlichen Gründen beruhigte Leya aber alles hier. Von den starken Böen bis hin zu den geschätzten dreißig Metern freien Fall, sobald man den Rand übertrat. Hier konnte man aufhören sich von Vernunft leiten zu lassen.
Gemächlich schritt sie zu der Mitte einer Klippe und streckte sich auf dem weichen Grasboden aus. Wie streichelnde Hände glitt der Wind über sie hinweg. Das Gras raschelte im Einklang mit der Musik, die die Luft spielte und schmiegte sich an Leyas Haut. Leise stimmte sie in die Klänge mit ein. Sie sang irgendein Lied, wusste gar nicht welches, nur um nicht nur zuzuhören. Hier war der einzige Ort, wo Leya gerne sang. Es war ihr egal, dass sie es wohl so gar nicht konnte ihrem Wissen nach. Hier hörten sie nur der Wind und das Meer, während sich Wärme von dem Leieranhänger ausgehend in ihrem Körper ausbreitete.
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Danke fürs Folgen, LovelySunshining (Oben ist deine wohlverdiente Widmung!:* )!<3
Song:
Imagine Dragons - Radioactive
Youtube:
http://youtu.be/u3Q8N-XCu7g
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Götterstimme
МистикаEr packte sie an den Armgelenken, bevor sie ihn ein weiteres Mal schubsen konnte. „Wieso lässt du mich nicht dein Held sein?!" schrie Cal Leya wutentbrannt in ihr regennasses Gesicht. „Weil es in meiner Geschichte keine Helden gibt. Ich werde unwei...