Kapitel 4 - Licht am Ende des Tunnels - Part 6

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Blitzschnell überwand sie die Treppe mit großen Schritten, durchquerte den Flur und einen Teil des Pausenhofs um schließlich im Schatten einer Eiche stehen zu bleiben.

Während ihr Körper von den ersten Schluchzern des Weinkrampfs geschüttelt wurden, der sich in ihr ausbreitete, setzte Leya sich auf den Boden, zog die Knie an ihre Brust und vergrub ihr Gesicht darin.

Was war nur los mit ihr? Mit ihrem Leben? Obwohl sie sich diese Frage schon oft genug gestellt hatte, wusste sie nicht, wie sie die Kontrolle über alles so schnell hatte verlieren können. Wurde sie nun doch verrückt? Solche ... Visionen waren doch ein Anzeichen dafür. Vielleicht hatte sie ja einen Tumor in ihrem Kopf, der das verursachte... Okay, nein, da hatte sie lieber Visionen, weil sie eine Halbgöttin oder so ein Mist war.

Eine Weile saß sie so da, lauschte ihrem Körper und den Geräusche, die er machte, wenn sie weinte.

„Leya, was ist los?" fragte eine sanfte, tiefe Stimme plötzlich.

Sie hob ruckartig den Kopf und starrte Cal an. Wieso hatte sie ihn nicht kommen hören? War sie wirklich so unaufmerksam gewesen?

Als sie nicht antwortete, sondern ihn nur weinend ansah, setzte sich Cal neben sie und nahm sie vorsichtig in den Arm. Wenn sie das nicht wollte, konnte sie ihn sofort wegstoßen. Das war ihnen beiden klar. Aber Leya wollte nicht. Auch wenn sie Cal kaum kannte und sich nicht sicher war, ob sie ihm vertraute. Sie wollte jetzt nicht allein sein. Und so lehnte sie sich gegen Cals Brust und ließ sich von ihm näher heranziehen bis sie fast auf seinem Schoß saß.

„Hey, alles wird gut. Nicht weinen. Schtscht.." Zärtlich strich er ihr über die Haare. Sein Hemd wurde immer nasser, aber Leya war ihm dankbar, dass er sich nicht einmal beschwerte, als sie den weichen Stoff mit ihrer laufenden Nase und der dunklen Wimperntusche beschmierte.

„Darf ich dich was fragen?" wisperte sie in Cals Hemd.

„Wenn ich dir im Gegenzug auch eine Frage stellen darf, gerne." Seine Stimme vibrierte in seiner Brust und somit an Leyas Ohr.

„Okay." Sein Vorschlag klang fair und sie war jetzt wirklich nicht in der Verfassung zu streiten. „Woher wusstest du, dass ich hier bin?" murmelte sie.

„Ich hab dich aus dem Fenster vom Musiksaal aus gesehen und dann, das muss ich zugeben, hab ich gelauscht, was du hier machst." raunte er auf ihren Scheitel und strich ihr über die blonden Locken. „Jetzt zu meiner Frage: Was ist passiert?"

Leya zögerte damit ihm zu antworten. Sie wusste nicht, was er mit der Information anstellen würde und ob er sie für verrückt erklären würde – wie sie selbst es langsam tat. Doch letztendlich hatte sie seinem Vorschlag von vorhin ja zugestimmt. Und so erzählte sie ihm von dieser – sie fand einfach keine besseres Wort dafür – Vision. „Und dann, als ich mir das Bild angesehen habe, war darauf genau die Szene zu sehen in der Eurydike verschwunden ist. Selbst ihr Gesichtsausdruck war derselbe... Werde ... werde ich langsam verrückt?"

Cal schwieg kurz, bevor er erwiderte: „Nein. Du wirst nicht verrückt. Ich denke eher, dass du Visionen von deinem Bild, deinem Teppichstück hast. Wie soll ich das erklären? Das Leben aller Menschen und insbesondere der Halbgötter ist auf etwas verewigt, das wir die Teppiche nennen. Diese Teppiche sind sowohl Aufzeichnungen, als auch Vorherbestimmungen unseres Schicksals, unserer Geschichte. Aber einige dieser Geschichten, dieser Bilder können nicht beendet werden. Denn neben dieser Vorherbestimmung spielt auch Zufall und Entscheidungen der einzelnen Personen eine Rolle. Wenn die Bilder nicht beendet wurden, dann werden sie solange neu gesponnen bis sie fertiggestellt sind und ihren Platz in den Teppichen gefunden haben. Einige dieser Bilder sind schon hunderte Male wiedergekommen, andere nur ein einziges Mal. Aber alle müssen beendet werden, denn so wollen es die Teppiche. Da aber einige der Schicksale Tod und Verderben über die Menschheit und die Welt insgesamt bringen, werden sie beendet, bevor sie auch nur angefangen haben. Das alles ist ziemlich kompliziert und letztendlich auch mehr eine Sage als wirklich bewiesen...

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