Kapitel 4 - Licht am Ende des Tunnels - Part 5

3K 274 5
                                    

 Bild: Frau Asami

Sie ging einen langen, zu langen Weg entlang. Ihre Füße schmerzten und ihre Hände hatten sich um etwas Metallenes geschlossen, ja regelrecht verkrampft. Jede einzelne Faser ihres Körpers tat unglaublich weh. Sie konnte nicht mehr, musste aber weiter. Sie durfte jetzt nicht aufhören. Erst musste sie ihr Ziel erreichen. Schroffe, kantige Felsen waren überall. Kein Funken Licht war zu sehen bis auf das sanfte Glühen des Instruments in ihrer Hand. Sie sah etwas genauer hin und erkannte eine silberne Leier. Sie leuchtete ihr den Weg. Den Weg zurück nach oben, raus aus der Unterwelt. Ihr eigener Atem hallte laut in ihr wieder, dröhnte ihr regelrecht in den Ohren wegen der vollkommenen Abwesenheit anderer Geräusche. Sie musste hier endlich raus, sonst würde sie noch verrückt werden. Es war, als würde die Zeit stehen bleiben und alle Geräusche verstummen bis auf ihre eigenen. Es war als würde sie singen.

Doch sie sang nicht, sie keuchte nur und schleppte sich mühsam den immer gleichen Felsgang entlang, während sie darauf hoffte, regelrecht danach gierte wieder an das Sonnenlicht zu kommen. Sie war nicht für die Dunkelheit geschaffen. Aber noch weniger war sie für ein Leben ohne die Person hinter ihr geschaffen. Das hatte ihre Reise zu diesem grässlichen Ort mehr als nur bewiesen. Sie brauchte diese eine Person hinter ihr mehr als alles andere. Sie war ihre einzig große Liebe.

Sie brauchte Eurydike.

Als Eurydike gestorben war, war sie selbst mit ihr gestorben, ihr Herz und ihre Seele waren gebrochen bei dem Anblick der Toten. Aber jetzt würden sie zurückkehren, zusammen mit Eurydike würde ihr altes Leben von neuem beginnen.

Ein kleines Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Ja, sie würde wieder leben. Und das war all die Mühe wert.

Mit diesem Gedanken in ihrem Kopf bog sie um die nächste Felsenecke und erwartete weiterhin Dunkelheit zu sehen, doch stattdessen erblickte sie ein helles Glühen in weiter Ferne am Ende des Gangs.

Sonnenlicht!

Sie hatte es geschafft, hatte den Hades überlebt und ihr Ziel erreicht. Mit einem freudigen, gelösten Lachen fuhr sie herum und rief: „Wir haben es geschafft, Eurydike!"

Eurydike sah sie nur aus ihren dunklen Augen an, die so herzzerreißend voller Trauer und Sehnsucht waren und streckte ihren Arm nach ihr aus.

In diesem Augenblick wurde ihr klar, was sie getan hatte. Sie hatte sich umgedreht, bevor sie den Hades verlassen hatte. Sie hatte ihr Versprechen gebrochen und dadurch Eurydike und mit ihr, ihre eigene Seele dazu verdammt bis in alle Ewigkeit in der Unterwelt zu wandeln. Es würde keinen Neubeginn für sie geben.

Schwarze Schleier zogen die Treppen hinauf. Sie stürzte auf Eurydike z, um sie außer Reichweite zu ziehen, doch anstatt Eurydike zu berühren, griff sie ins Leere. Ihre Finger fuhren durch kalte Luft, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Eurydike war zurückgewichen, lief rückwärts die Treppe hinab, direkt auf die schwarzen Schleier zu.

Es tut mir so leid." flüsterte sie und betete, ja flehte darum, dass Eurydike sie vernahm.

Die schwarzen Schlieren hatten Eurydike inzwischen erreicht und wanden sich um sie. Von den Füßen hinauf bis zu ihrem wunderschönen Gesicht. Bei jeder Berührung der Schleier wurde Eurydike mehr zu einer von ihnen. Ihre weiße Haut wurde schwarz und verrauchte, wurde Teil der Schlieren.

Als letztes berührten die Schleier ihre Gesichtszüge, die letzten Überbleibsel von Eurydikes alter Gestalt. Doch bevor auch das verschwand, verrauchte, als hätte es nie existiert, schenkte Eurydike ihr noch ein letztes, sehnsüchtiges, aber auch beruhigendes Lächeln. Daraus sprachen tausendmal mehr Dinge als Worte es vollbracht hätten.

Und dann war sie, die Liebe ihres Lebens, verschwunden.

Die schwarzen Schleier zogen sich zurück, flossen, wie dunkles Nebelwasser die Treppe herunter, bis sie sie nicht mehr erkennen konnte.

Leya riss mit rasendem Herzen ihre Augen auf.

Was war gerade passiert? Hatte jemand was bemerkt?

Sie sah sich unauffällig um. Niemand blickte in ihre Richtung, alle waren mit ihren Bildern beschäftigt.

Ihr Blick streifte die Uhr, die an der Wand hing. Geschockt starrte sie auf das Ziffernblatt. Es war 15.10 Uhr! Sie hatte nur noch zehn Minuten Unterricht! Es waren fast zwei Schulstunden vergangen, ohne, dass sie etwas davon mitbekommen hatte.

Und mit dem Bild hatte sie auch noch nicht angefangen! Hoffentlich bekamen sie noch etwas Zeit in den nächsten Stunden, sonst wäre Leya geliefert. Sie schwenkte von der Uhr zu ihrer Leinwand.

Als sie das sah, was sich direkt vor ihrer Nase befand, wurden ihre Augen groß und ihre Hand, die einen farbigen Pinsel umklammert hielt, fing unkontrolliert an zu zittern.

Vor ihr war exakt die Szene zu sehen, die sie gerade miterlebt hatte. Von der Froschperspektive, also vom Boden aus, erblickte man einen felsigen Gang mit einer Treppe, auf dem sich rabenschwarze Schlieren in die Höhe zogen, über den sich auflösenden Körper einer Frau hinweg. Das einzige, was noch von ihr übrig war, war das wunderschöne, elfenbeinfarbene Gesicht mit Augen, die so tief und schwarz wirkten wie eine endlose Felsschlucht. Die schwarzen Schleier begannen schon sich auch noch die Gesichtszüge anzueignen, doch im Moment, existierten sie noch und hatten einen liebevollen Ausdruck angenommen. Einer, der sagte, dass es zwar traurig, aber in Ordnung war, was geschah.

Frau Asami musste ihr Zittern bemerkt haben, denn sie stand plötzlich links neben Leyas Staffelei und fragte mit sanfter Stimme: „Ist alles okay mit dir, Leya?"

Anstatt einer Antwort brachte Leya nur ein heiseres Krächzen hervor. Sie räusperte sich und murmelte, den Blick fest auf ihr Bild geheftet: „J...ja. Ich... ich..." Sie atmete einmal tief durch um mit der Stotterei aufzuhören und zwang sich dazu ihren Blick von dem Bild ab - und ihrer Lehrerin zuzuwenden. „Könnte ich bitte auf die Toilette gehen. Ich bin auch schon fertig mit dem Bild."

„Natürlich! Darf ich es mir genauer ansehen?"

Leya deutete auf die Frage hin wortlos auf ihre Leinwand und stürmte dann unter den leicht irritierten Blicken ihrer Klassenkameraden aus dem Zimmer.

Luft! Sie brauchte Luft. Nicht die abgestandene Schulluft, sondern Frischluft. Sie musste hier raus. Zumindest für einen Moment.

 ____________________________________

Vielen Dank fürs follown,

littlesqueal1!

Song:

Nelly Furtado & James Morrison - Broken Strings


Götterstimme Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt