Ein Netz auf Zweifel

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Pov Liv

Ich starrte die Sandfrau entgeistert an. Ihre Worte hallten in meinem Kopf wider, als ob sie durch Wasser drangen. Ruhn könnte versucht haben, mich umzubringen? Das war unmöglich. Er hatte vor mir gestanden, so nah, dass ich noch den Druck seines Kusses auf meinen Lippen spüren konnte, und dann... was war dann passiert? Ich erinnerte mich an die Gestalt in der Kutte, die plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war. Die Kälte in meinem Bauch. Die schwärzeste Angst.

>Das kann nicht sein< flüsterte ich, mehr zu mir selbst als zur Sandfrau, die ihr Lächeln kein bisschen verlor. >Er würde mir nichts antun<

Die Sandfrau blieb still, doch ihre Augen funkelten, als ob sie eine Art Belustigung in meinen Worten fand. >Schau in den Spiegel, Liv< sagte sie sanft, aber mit einer Härte, die keinen Widerspruch duldete. >Schau hinein und finde deine Antwort.<

Mein Herz raste. Meine Hände zitterten leicht, während ich widerwillig auf den Spiegel zuging. Ein kalter Wind wehte durch den Raum, und ich spürte die unangenehme Präsenz der Sandfrau hinter mir, ihre Augen, die mich stumm beobachteten. Ich blieb stehen, meine Füße auf dem kühlen Boden, und atmete tief durch, bevor ich in den Spiegel sah.

Zuerst war das Bild undeutlich, als ob der Nebel vor meinen Augen lag. Dann jedoch klärte es sich, und ich sah Zeke. Sein vertrautes Gesicht. Doch da war noch wer. Er trug schwarze Kleidung, die an die von Ruhn erinnerte und in seiner Hand hielt er... eine schwarze Kutte. Genau die Kutte, die ich in dem Moment vor Augen hatte, bevor ich die Klinge gespürt hatte. Ich beobachtete Zeke, wie er durch den Wald rannte, sein Gesicht hart, entschlossen. Aber es war nicht nur Zeke.

>Dark< flüsterte die Sandfrau von irgendwo hinter mir.

Mein Mund wurde trocken. Der Name war einige Male gefallen und ich erinnerte mich wie verärgert Ruhn reagiert hatte darauf.
>Dark ist die dunkle Seite von Ruhn< erklärte die Sandfrau, als hätte ich es nicht schon verstanden. >Die Zahnfee hat eine Seite, die in der Dunkelheit lebt, voller Wut und Hunger. Du hast es gespürt, nicht wahr? Dieses unheilvolle Gefühl... als er sich dir näherte.<
Ich konnte meinen Blick nicht vom Spiegel lösen. Es war die dunkle Seite von Ruhn – Dark, wie die Sandfrau ihn nannte. War er die Gestalt, die mich angegriffen hatte, die mich verletzt hatte?

Ich schluckte, die Erinnerung an den Moment, als Ruhn auf mich zugekommen war, seine Hand an meinem Hals. War es wirklich Ruhn? Oder war es Dark? Die beiden Seiten verschmolzen immer mehr in meinen Gedanken, und es fiel mir schwer, mich daran zu erinnern, was real gewesen war.

>Ruhn war es nicht< murmelte ich schließlich, als ob ich es für mich selbst festigen wollte.

Doch die Sandfrau trat näher, ihr Lächeln verschwand nicht. >Wie kannst du dir so sicher sein?< fragte sie leise. >White und Dark sind Ruhn. Wie weißt du, dass es nicht Ruhn war, der dich verletzen wollte? Dass Dark nur das zu Ende gebracht hat, was Ruhn begonnen hat?<

Ich fühlte, wie mein Herz erneut raste, während ich das Bild im Spiegel betrachtete. Dark und Ruhn waren untrennbar. Ich wollte an das Gute in ihm glauben, wollte glauben, dass er mich nicht verraten hatte. Doch der Zweifel nagte jetzt an mir, angefacht durch die Worte der Sandfrau.

>Ruhn hat nicht versucht mich umzubringen< flüsterte ich, als ich erneut in den Spiegel blickte und Dark beobachtete. >Er würde das nicht tun.<

Die Sandfrau trat näher, ihre Augen bohrten sich in meinen Rücken. >Dann frage dich, warum du hier bist< sagte sie sanft. >Und warum Zeke dich nicht einfach sterben lässt.<

>Du meinst Zeke hält mich am Leben?< fragte ich skeptisch, in der Hoffnung das Thema wechseln zu können. Die Sandfrau verwirrte mich nur.
>Das Armband bindet dich ans Traumland und so lang dein Geist hier ist, lebt auch deine Hülle. Und so lange muss ich dich hier ertragen< antwortete sie schnippisch.

Meine Gedanken wirbelten durcheinander, während ich mich an den Kuss erinnerte oder eher daran, wie wenig ich davon wirklich gespürt hatte. Stattdessen waren diese Bilder über mich hereingebrochen, unkontrollierbar und fremd. Ich konnte sie nicht richtig greifen, nicht vollständig einordnen, aber da war dieser Mann gewesen. Er trug lockere Kleidung, sein Gesicht war verschwommen,  doch sein Schreien hallte in meinen Ohren. Sein Körper ging zu Boden, und dann... dieses grelle Licht. Es hatte alles überstrahlt, wie ein unerträglicher Blitz. Aber danach war noch etwas gewesen, etwas an das ich mich nicht ganz erinnerte. Ich müsste es noch einmal sehen, um mir wirklich sicher zu sein.

Das Bild ließ mich nicht los, und mit jedem Atemzug wurde die Last in meiner Brust schwerer. Die Zweifel, die die Sandfrau in mir gesät hatte, bohrten sich tiefer in meinen Verstand. War es wirklich Ruhn, der mich verletzt hatte? Oder war es Dark? Konnte ich überhaupt noch zwischen den beiden unterscheiden? Ich wollte verzweifelt an das Gute in Ruhn glauben, an den Teil, den ich kannte. Doch dieser Glaube zerbrach unter der wachsenden Unsicherheit.

Eines war jedoch klar. Diese Wächter, die mich umgaben, wussten mehr, als sie zugaben. Zeke, Ruhn, sogar Santa. Sie alle hielten etwas zurück, als wäre ich ein Spielstein in einem viel größeren Plan. Meine Hände zitterten, als ich mir das eingestand. Die Abhängigkeit von ihnen fühlte sich zunehmend wie eine Falle an.

Joon. Er war der einzige, der in all diesem Chaos nicht wie die anderen wirkte, der etwas außerhalb dieser Welt stand, ähnlich wie ich selbst. Er schien nur einen einzigen Wunsch zu haben, seinen Freund zu finden. Was auch immer dazwischengekommen war, ich spürte, dass Joon die einzige Person sein könnte, die mir ehrlich begegnete.

Ich traf einen Entschluss. Ich musste mit ihm sprechen. Allein. Ohne die Wächter, ohne Zeke oder Ruhn, die immerzu über mir schwebten wie dunkle Schatten. Ich konnte ihnen nicht mehr vertrauen, wenn ich es je konnte. Nicht, nachdem ich diese Bilder gesehen hatte. Die Zweifel hatten sich wie ein Netz um mich gelegt, und ich wusste, dass ich es nur lösen konnte, wenn ich meine Antworten direkt suchte. Fernab der Wächter.

Mit einem letzten, unsicheren Blick in den Spiegel drehte ich mich von der Sandfrau weg. Ich spürte deren Augen noch immer auf mir, doch ich entschied mich, nicht mehr zu fragen. Die Wahrheit lag nicht in diesem Raum. Die Wahrheit war dort draußen, und Joon war der Schlüssel, um sie zu finden.

Plötzlich raschelte es im Raum, und ein Sandwirbel erschien aus dem Nichts. Zeke trat daraus hervor, die Steampunkbrille lässig von seinem Gesicht ziehend. Ohne ein Wort wandte er sich zur Seite, wo die Sandfrau bereits auf ihn zu trat, ihm die Kapuze abnehmend. Ihr Blick glitt kurz zu mir, doch er war kalt und abschätzend. Dann wandte sie sich wieder Zeke zu, und ohne Vorwarnung drückte sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Zeke lächelte kurz, kaum mehr als ein Zucken seiner Lippen.

Mit derselben Kühle reichte er der Sandfrau seine Brille und den Beutel mit Sand, den er stets bei sich trug. >Füll den auf< sagte er, seine Stimme scharf und unfreundlich. Die Sandfrau zögerte nicht, nahm die Gegenstände an sich und verschwand wieder, wie ein Schatten im Raum.

Zekes Augen wanderten zu mir, nun gänzlich auf mich fixiert. >Komm mit< forderte er, seine Stimme schneidend und unnachgiebig. Es war keine Bitte, nicht einmal eine Aufforderung, es war ein Befehl. Ich spürte die Spannung in der Luft, die von ihm ausging. Jede Unsicherheit, die ich ohnehin schon verspürte, wurde nun nur noch verstärkt.

>Beweg dich, deine Zeit läuft ab Prinzessin< setzte Zeke nach, sein Tonfall noch schärfer, als ich einen Moment zögerte. Ich fühlte, wie sich meine Kehle zusammenzog, unsicher ob es an Zekes Art lag oder dem was seine Worte bedeuteten.

Secret desire | Eine Julien Bam FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt