Ohne Kontrolle, immer noch Kontrolle

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Livs Worte trafen mich wie ein Schlag, der mich aus meinem inneren Gedankenkäfig riss. >Vielleicht solltest du einfach mal aufhören, gegen all das in dir anzukämpfen. Du selbst bist dein größter Gegner< sagte sie mit einer Ruhe, die mich stutzig machte.

Ich blickte auf, überrascht von ihrer Direktheit. Was wusste sie schon? Sie kannte nicht die Dunkelheit in mir, nicht den Sturm, der in meinem Inneren tobte. >Du meinst, ich...?<nbegann ich, doch sie unterbrach mich.

>Du solltest dieses kontrollierte, selbst beherrschende einfach mal sein lassen. Einfach du sein. Dann würdest du auch nicht so schlecht über dich denken.< Ihre Worte klangen so einfach, fast naiv. Aber irgendetwas daran hatte sich in mir festgesetzt.

Ich ließ meinen Blick von ihr weg gleiten, hinab zu den Dachziegeln unter uns, an der Regenrinne vorbei, in den verwilderten Garten des Hotels. Irgendwo dort unten lauerten sie, die Ketten, unsichtbar, aber stets präsent. Sie rissen einen immer wieder zurück, egal, wie weit man versuchte zu entkommen. 

>Du weißt nicht, was du da sagst< murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu ihr. Ich ohne Kontrolle? Ein grausiger Gedanke. Dark und White würden sich sofort über alles hermachen, was ich hatte. Sie würden nicht nur mich, sondern auch Liv zerreißen, ohne zu zögern.

>Warum?< fragte sie, und ihre Stimme hatte diesen sanften, nachdenklichen Tonfall. >Es kann befreiend sein, wenn man mal nicht weiß, was kommt. Ich nehme es ja auch hin, hier wieder mit dir eingesperrt zu sein. Und mit den anderen.< Sie lächelte mich an, dieses unschuldige Lächeln, das so gar nicht zu den Gedanken passte, die in meinem Kopf herumspukten.

Für einen kurzen Moment ließ ich ihren Vorschlag in mir nachklingen. Einfach ich sein. Nicht überlegen, nicht ständig gegen mich selbst kämpfen. Doch der Gedanke war ebenso beängstigend wie verlockend. Ich schüttelte den Kopf. >Ich halte das für keine gute Idee< sagte ich schließlich. Nicht für mich, nicht für uns.

Liv ließ nicht locker. >Natürlich nicht. Weil du es noch nie ausprobiert hast, oder?< Ihre Augen waren auf mich gerichtet, fordernd und doch irgendwie ermutigend.

Ich schüttelte erneut den Kopf, fester diesmal. Es war absurd. So zu tun, als könnte ich einfach alle Barrieren fallen lassen und irgendetwas Gutes daraus entstehen lassen.

>Wenn's mir zu blöd wird< begann sie plötzlich, und in ihrer Stimme lag ein frecher Unterton, den ich von ihr nicht erwartet hatte, >kann ich dich immer noch hier runterstoßen.< Sie deutete auf den Abgrund unter uns. >Die Ketten haben dich sicher vermisst.<

Überrascht sah ich sie an. Ihr verschmitztes Grinsen war nicht zu übersehen. Liv, die Unschuldige. >So viel Boshaftigkeit hätte ich dir gar nicht zugetraut< knurrte ich, halb belustigt, halb irritiert.

>Man lernt nie aus, oder?< grinste sie breit.

Ich sah sie an und konnte nicht anders, als ein kurzes Lachen zu unterdrücken. Sie hatte mich tatsächlich überrascht. Für einen Moment vergaß ich die Dunkelheit in mir, und alles, was mich seit so langer Zeit gefangen hielt. Liv hatte eine Art, selbst in den schlimmsten Momenten einen Funken Normalität zu bringen, eine Leichtigkeit, die mich fast schon schmerzte, weil sie mir so fremd war.

Aber sie verstand nicht. Sie konnte nicht wissen, was es bedeutete, die Kontrolle loszulassen. Für sie war es eine Entscheidung, für mich... es war der Verlust von allem. Und doch – was wäre, wenn sie recht hatte?

>Du weißt gar nicht, was du da vorschlägst< sagte ich schließlich leise, aber sie ließ sich davon nicht beeindrucken. Ihre Augen leuchteten vor Neugier und Entschlossenheit.

>Vielleicht nicht< gab sie zu. >Aber manchmal muss man es einfach wagen, oder?<

Ich schwieg, ließ ihre Worte in mir widerhallen. Wagen? Das war ein Wort, das ich längst aus meinem Vokabular gestrichen hatte. Für jemanden wie mich gab es keinen Raum für Wagnisse, nur für Kontrolle. Und doch... warum fühlte es sich so an, als hätte sie einen Punkt getroffen?

Secret desire | Eine Julien Bam FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt