Der See bei Mondschein

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Die Sonne schien noch warm über den Garten, als ich mich selbst als Kind wiedererkannte. Sie rannte lachend zwischen all den Menschen umher, zusammen mit dem kleinen Jungen, der genauso viel Energie hatte wie sie. Mein Herz schlug schneller, nicht nur von der Aufregung, sondern auch von der merkwürdigen Faszination, mich selbst in dieser längst vergessenen Erinnerung zu sehen. Das war ich, in einem Leben, das so weit weg schien. Ich konnte die Freude auf ihrem jungen Gesicht spüren, so unschuldig, so frei von dem, was noch kommen würde.

>Liv, es gibt Abendessen!< Die vertraute Stimme meiner Mutter rief mich zurück in die Realität der Erinnerung. Der Junge an ihrer Seite schien die Aufforderung genauso zu hören und ohne ein weiteres Wort rannten sie gemeinsam ins Haus, ihre nackten Füße hinterließen kleine Staubwolken auf dem Weg.

Ich drehte mich zu Zeke um, der neben mir im Schatten stand, seine Augen ernst, als ob er auf etwas wartete. >Wie soll mir das hier helfen?< fragte ich verwirrt. Alles wirkte so friedlich, so harmlos. Was hatte diese Kindheitserinnerung mit den Mondkristallen oder meiner Verletzung zu tun?

Zeke sah mich nur ruhig an. >Warte ab< sagte er leise, und bevor ich weiterfragen konnte, veränderte sich die Szene. Es war, als würde die Zeit schneller laufen, wie eine Filmszene, die vorgespult wird. Die Sonne verschwand plötzlich hinter den Bäumen, der Himmel wurde von tiefem Orange zu einem samtigen Violett. Schatten fielen über den Garten und bald war es Nacht.

Eine Gruppe von Erwachsenen kam aus dem Haus, sie trugen lose Kleidung und setzten sich leise auf die bunten Yogamatten, die überall im Garten verteilt waren. Ihre Bewegungen waren ruhig, fast hypnotisch, während sie begannen, tief durchzuatmen, ihre Körper in sanfte, fließende Posen brachten. Und da, im Hintergrund, huschten zwei kleine Gestalten hinaus in die Nacht. Ich erkannte sich und den Jungen sofort.

>Da ist ein See< sagte der Junge, seine Stimme vor Aufregung bebend. >Er ist weiter hinten im Garten. Komm, ich zeig’s dir!<

Ich folgte den Kindern, ich konnte das leise Kichern der kleinen Liv hören, das durch die Dunkelheit drang. Aber als ich die Bäume hinter dem Garten erreichten, war es nur noch die kleine Liv, die am See ankam. Das Kind stand am Ufer, blickte sich verwirrt um.

>Wo ist er?< fragte die ich leise, mehr zu mir selbst.

Doch kurz darauf brach der Junge aus den Büschen, grinste breit. >Ich bin falsch abgebogen< lachte er, und die kleine Liv stimmte in sein Kichern ein. Es war eine vertraute Szene, ein Moment kindlicher Unschuld, aber etwas fühlte sich falsch an. Ich konnte es in der Luft spüren, diese leichte Spannung, als ob etwas Dunkles in der Nähe lauerte, das nur darauf wartete, zuzuschlagen.

Die Kinder gingen weiter, sie erkundeten das Ufer des Sees, ihre Schritte leicht und unbeschwert. Der Junge deutete plötzlich auf etwas im Wasser, seine Augen funkelten neugierig. >Schau mal< flüsterte er, und die kleine Liv beugte sich vor, um besser zu sehen.

Und dann geschah es.

Der Junge stieß sie einfach. Mit einem entschlossenen Schubser fiel die kleine Liv ins Wasser. Es war so schnell, so unerwartet, dass ich, die alles beobachtete, es selbst kaum fassen konnte. >Nein!< rief ich, ihre Hände instinktiv ausgestreckt, als wollte ich das Kind aus dem Wasser ziehen, doch Zeke hielt mich zurück.

Ich drehte mich zu Zeke um, entsetzt. >Warum hat er das getan?<

Zeke hielt smich zurück, seine Hand fest an meinem Arm. >Schau< sagte er nur und deutete nach oben.

Ich hob den Blick. Der Mond war groß und rund, ein leuchtender Vollmond, der den See in ein kühles, silbernes Licht tauchte. Sein Licht schien stärker zu werden, je länger ich hinsah, es glitzerte auf der Wasseroberfläche wie winzige Kristalle.

Secret desire | Eine Julien Bam FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt