Ein Fünftel

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Pov Ruhn

In mir tobte das pure Chaos, ein tosender Sturm, der mich von innen heraus zerriss. All das – jedes brennende Gefühl, jeder wütende Gedanke – führte zurück auf auf dich, Liv. Nur weil du mich überredet hast, die Kontrolle loszulassen, weil du mich dazu gedrängt hast, mich für einen winzigen Augenblick fallen zu lassen. Und was war passiert? Auf dem Dach hatte sich etwas entfesselt, das ich kaum begreifen konnte, etwas, das mich mit einer Macht überrollt hatte, die gefährlicher war als jede Kette, die mich in diesem Hotel hielt.

Mein Weg führte mich in den Eingangsbereich. Lumi lag entspannt auf dem Flügel, sein kleiner Körper ausgestreckt wie bei einer Katze, die sich in einem Sonnenstrahl wärmt. Doch kaum sah er mich, sprang er auf und setzte sich sofort auf meine Schulter, seine Neugier und Besorgnis spürbar.

>Was ist los, Sir?< fragte er leise, sein Gesicht im schummrigen Licht beinahe ernsthaft besorgt.

Ich knurrte, meine Stimme klang dunkler als ich beabsichtigt hatte. >Du hattest recht.<

Lumi riss seine großen Augen auf. >Womit? Lumi hat noch nie gehört, dass ihr mir recht gebt!< Das Erstaunen in seiner Stimme war unüberhörbar.

>Dass es ein Fehler war. Alles mit Liv damals.< Die Worte kamen schwer über meine Lippen, doch sie waren wahr. Ich hätte sie nie hier mit mir einsperren dürfen. Ich hätte sie verjagen sollen. Dann… wäre mein Leben heute nicht von dieser unerträglichen Last zerrissen, die sich wie ein Fluch auf jede meiner Handlungen legte.

Lumi öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich achtete nicht darauf. Stattdessen ließ ich die schwere Kellertür mit einem kräftigen Stoß aufknallen. Noch bevor ich die ersten Stufen hinabsteigen konnte, hörte ich hinter mir Schritte und Livs Stimme, die meinen Namen rief. >Ruhn<

Ein bitteres Lächeln huschte über mein Gesicht. Natürlich folgst du mir. Süß, dachte ich zynisch. Natürlich bleibst du hartnäckig an meiner Ferse. Ich hob meine Hand und ließ den Teppich unter ihren Füßen sich zusammenrollen. Mit einem leisen Fluchen sprang sie darüber, kämpfte um das Gleichgewicht, aber sie fiel nicht.

>Was tust du?< fragte sie, ihre Stimme einen Hauch verzweifelt, doch ich antwortete nicht. Stattdessen ließ ich den Flügel ein Stück vor ihr auf den Boden gleiten, sodass sie abrupt stehen blieb. Das gab mir genug Zeit, um im Schatten der Treppe zu verschwinden, Lumi noch immer auf meiner Schulter.

>Halt sie auf, Lumi< murmelte ich leise, als wir in die Dunkelheit des Kellers hinabstiegen.

Lumi schwebte von meiner Schulter und zog in einer fließenden Bewegung eine dünne, leuchtende Linie zwischen uns und der Treppe – ein schwaches, magisches Hindernis, das Liv verlangsamen würde, ohne ihr wirklich zu schaden. Als ich das sah, konnte ich nicht anders, als ihm ein anerkennendes Nicken zu schenken. Lumi verstand mich in diesem Moment besser, als ich mir selbst eingestehen wollte.

In der Dunkelheit des Kellers breitete sich eine gespenstische Ruhe aus, doch mein Kopf war erfüllt von den Hallen alter Erinnerungen. Die mich plötzlich plagten. Bilder von früher, als ich noch Julien war, als diese Seele noch ganz war und keine fünf verschiedenen Seiten kannte. Diese Erinnerungen, die immer wieder aufblitzten, halfen mir, die Verbindung zu meinem wahren Selbst zu verlieren – und genau das machte mich wahnsinnig. Wer war ich wirklich? Der Dunkle, der das Chaos suchte? Der Aggressive, der sich in der Wut verlor? Oder etwas, das noch viel tiefer vergraben war, ein Teil, das ich nicht einmal mehr spürte?

Ich lehnte mich gegen die kalte Wand und schloss die Augen, nur für einen Moment. Der Gedanke an Liv auf dem Dach, ihre Augen, als sie mich ohne Angst ansah, und der Kuss, den wir geteilt hatten – es hätte ein Moment des Friedens sein können, des Verstehens. Doch stattdessen hatte es mich zerbrochen. Es war wie ein kurzer Blick auf etwas, das ich niemals besitzen durfte.

Secret desire | Eine Julien Bam FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt