95)Trauer

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Azuras Sicht:

Kämpfen. Immer nur kämpfen. Blitzschnell wirbele ich herum. Meine Klauen treffen einen Surrisch und reißen eine tiefe Wunde. Meine Augen blitzen zornig und ich schon nehme mir den nächsten vor. Ein sehr junger Quatzol, mit wunderschönem, dunkellilanem Gefieder. Seine bernsteinfarbenen Augen sehen mich ängstlich an. Ich hole zum Schlag aus, der Quatzol dreht unterworfen den Kopf weg und gibt auf. Ich stoppe meine Bewegung und mustere ihn eingehend. Er wartet auf den tödlichen Hieb. Als dieser ausbleibt, dreht er den Kopf wieder in meine Richtung. Ich sehe ihm seine Verwunderung deutlich an und in seinen Augen steht jetzt ein Ausdruck des Misstrauens und der absoluten Wachsamkeit.

Da ich nicht weiß, was ich nun tun oder sagen soll, frage ich ihn einfach nach seinem Namen. Er sieht nun eindeutig erstaunt aus, als er langsam und stotternd antwortet:

„Äh ... M ... Mi ... Miro. Ich heiße Miro. Und du?"

„Azura." sage ich freundlich.

„Wieso hast du mich nicht umgebracht? Es wäre ganz leicht gewesen. Nur ein einziger Krallenhieb. Und du kannst töten, das weiß ich. Ich habe gesehen, wie gnadenlos du all die Anderen getötet hast." fragt Miro zaghaft.

„Du bist noch so jung." sage ich entschuldigend.

„Ich bin auch nicht jünger als du." meint er trotzig.

Er ist mutig, das mag ich. Und er hat wunderschöne, tiefgründige Augen, in denen man sich verlieren kann. Oh verdammt. Passiert das gerade wirklich? Ich schwärme für einen meiner Feinde?

„Miro, warum bist du eigentlich bei den Surrisch?" frage ich ihn, in der Hoffnung ...

Ja in welcher Hoffnung eigentlich? Dass er ein blutrünstiges Monster ist oder dass er bloß zu diesen grausamen Taten gezwungen wird. Ich weiß es nicht. Gespannt mustere ich ihn und warte auf seine Antwort.

„Das weiß ich mittlerweile selbst nicht mehr so genau. Mein Leben besteht nur noch aus kämpfen und gehorchen." sagt Miro, während er mir tief in die Augen schaut und ich weiß intuitiv, dass er die Wahrheit sagt.

„Warum bist dann nicht einfach wieder gegangen? Wenn es dir doch nicht mehr gefallen hat."

„Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, ich hatte Angst, Angst, dass sie mich jagen und töten. Sie sind grausam und sie kennen keine Gnade." sagt er.

Dann erklärt Miro mir noch unendlich traurig:

„Ich fühle mich so schuldig. Ich habe so viele Unschuldige getötet. Einfach so, nur weil die Anführer der Surrisch es wollten. Das war eiskalter Mord. Azura, ich bin ein Mörder und das weißt du. Warum hast du mich nicht einfach umgebracht, als du die Gelegenheit dazu hattest?"

„Ich konnte nicht." sage ich.

Aber warum? Diese Frage spukt nun schon seit einigen Minuten in meinem Kopf herum. Und die einzige Lösung, die mir einfällt, ist totaler Schwachsinn. Ich liebe ihn nicht. Ich kann und darf ihn, einen Surrisch, nicht lieben. Das geht nicht. Und doch tue ich es. Ich kann es nicht weiter leugnen. Ich liebe ihn, den Surrisch, den ich verschont habe. Ich will bei ihm sein. Aber das geht nicht. Und die wichtige Frage: Liebt er mich auch? Ich hoffe es so sehr.

Ich will ihm gerade sagen, dass ich ihn liebe, da höre ich in der Nähe einen verzweifelten Schrei. Mama. Oh nein. Ich sehe Miro noch einmal an, dann fliege ich mit schnellen Flügelschlägen in die Richtung, aus der der Schrei kam. Ich schlängele mich blitzschnell durch das Getümmel. Dann sehe ich sie. Meine Mutter. Sie kämpft mit einem hellroten Quatzol, der rasend vor Wut immer wieder mit seinen Klauen auf sie einschlägt. Sie weicht aus, immer wieder, doch dann trifft er sie an der rechten Schulter und ich sehe, wie sie stark zu bluten beginnt. Erneut schlägt er zu, diesmal trifft er sie am Hinterbein. Sie jault laut auf und wirft den Kopf hin und her. Sie muss schreckliche Schmerzen haben. Zu meinem Entsetzen packt der Rote dann auch ihren Hals mit seinen Zähnen. Meine Mutter versucht sich mit aller Macht zu befreien und windet sich hin und her. Dann versucht sie ihn zu verletzen und schlägt um sich. Sie trifft ihn jedoch nur selten. Ihre Bewegungen werden immer schwächer und langsamer. Sie braucht dringend Luft, sonst wird sie sterben. Und es wäre meine Schuld. Schließlich unternehme ich nichts, aber ich kann auch nicht. Ich bin vom Schock immer noch gelähmt. Als meine Mutter dann schließlich zusammen sackt, fliege ich los. Ich werfe mich auf den Surrisch und zerre ihn grob von meiner Mutter fort. Wütend greife ich ihn immer wieder an.

Nach kurzer Zeit tritt er, schwer verletzt, den Rückzug an. Nun drehe ich mich besorgt zu meiner Mutter um und fliege zu ihr. Ich stütze sie und helfe ihr auf einen Felsvorsprung zu gelangen. Dann sehe ich ihr in die traurig drein blickenden Augen. Dann fließt eine Träne ihre Wange hinab. Sie tropft auf den Boden und versickert sofort. Als sie versucht aufzustehen, knickt sie sofort wieder ein und sackt auf den Boden zurück. Ich beuge mich besorgt über sie und berührte sie, mit meinem Kopf, sanft an ihrem Hals.

„Es tut mir leid, Azura." flüstert sie schwach.

„Mama, verlass mich bitte nicht. Ich brauche dich." klage ich.

Ich will nicht dass sie stirbt. Ich liebe sie doch. Wenn sie stirbt, bin ich ganz allein. Wen habe ich denn dann noch? "Miro" flüstert meine innere Stimme verschwörerisch. Ich ignoriere sie, weil ich es immer noch nicht ganz fassen kann, dass ich in einen Surrisch verliebt bin.

„Nein." hauche ich

„Du kommst gut allein zurecht. Ich bin stolz auf dich."

Wie kann sie nur denken, ich würde sie nicht mehr brauchen. Ich werde sie immer brauchen. Ihre Augenlider beginnen zu flattern. Ich weiß, dass es am hohen Blutverlust liegt. Er schwächt sie. Aber sie darf nicht aufgeben. Sie darf es einfach nicht.

Maja sieht mir noch einmal tief in die Augen, dann sackt ihr Kopf kraftlos zur Seite. Sie bewegt sich nicht mehr.

„Neeeeeiiiiinnnn!" jaule ich.

Ich sehe sie ein letztes Mal traurig an, dann stoße ich mich kräftig vom Boden ab und fliege immer höher. Ich blinzele die Tränen, die sich in meinen Augen gebildet haben und die langsam meine Wangen hinab fließen, weg. In jeden Flügelschlag lege ich all meine Wut und meine Trauer. Immer höher fliege ich. Dann lasse ich mich fallen. Es gibt nichts mehr, warum ich weiter leben will.


Verkehrte Welt 1 - Die Kinder des Himmels [Httyd/Drachenzähmen leicht gemacht]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt