Kapitel 70

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Manchmal ist es besser mit der Hoffnung zu leben als die Wahrheit zu erfahren.


Unmittelbar versetzte mich das Geschehene von vor etwas über einem Jahr, an den Abend, als ich nichtsahnend nach Hause kam und meine Adoptiveltern reglos auf dem Parkettboden entdeckte, zurück. Die Haut der beiden klaffend. Riesige Wunden, die sie nicht lange überleben ließen. Kratzer; so tief bis auf die Knochen. Körper, die leblos erschlafft da lagen. Bei diesem Anblick wurde einem sofort schlecht. In dem Moment sah es vor mir nicht wirklich anders aus, wie damals. Nun ja... Vielleicht doch anders: Extremer? Das Einzige war der seelische Schmerz. Der war im Augenblick nicht so enorm, wie früher. Als mir allerdings Duncan wieder in den Kopf schoss, verletzte es mich dann aber doch umso mehr, weil auf einer unerklärlichen Weise miteinander verbunden waren.

Ich schüttelte meinen Kopf und leckte mir unvermittelt über die schwarze Schnauze. Es war der pure Horror. Das sonst grüne Gras war abgetreten und aufgewirbelte. Erde machte sich breit, verschmutzte die Umgebung, die man gar nicht mehr zwischen Grün und Rot unterscheiden konnte. Einige tote Menschen lagen darauf. Diese bewegten sich nicht mehr und nach den Wunden zu urteilen, konnte man sie auch nicht mehr behandeln.

Es schienen fast nur Männer zu sein und vor allem ziemlich junge, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatten. Mir war bewusst, dass es nicht bloß welche aus Jonathans Rudel waren und auch nicht nur die von Duncan, sondern durch Claras Augen, auch welche aus ihrem. Tränen standen darin und es zerriss mir das Herz, ein Tier so zu sehen, dessen Mimik von Schmerz verzerrt war, als erlitt sie tausend Tode erleiden. So... unrealistisch.

Leicht stupste ich sie gegen die Flanke, sodass sie mir wieder ihre Aufmerksamkeit schenkte. Sie nickte traurig und wir liefen lautlos und langsam, sowie mit gespitzten Ohren, über Matsch und Blut. Es war widerlich, aber was blieb uns anderes übrig? Innerlich war ich drauf und dran zu zerbrechen. Äußerlich probierte ich stark zu sein, sodass es nicht auffiel, wie ich mich eigentlich fühlte. Immerhin hatte ich vorher auch nie so etwas vor Augen gehabt. Alles war so surreal, die Stimmung extrem drückend. Dann leises Stöhnen. Keine Ahnung, aber irgendwie kam es mir vor, als hätten sich die Rudel längst zurückgezogen, denn es fehlten viele aus Rivers. Nur wenige erkannte ich aus seinem, aber ich wusste, dass er irgendwo in der Nähe steckte. Doch wo?

Zugleich spürte ich Clara, die sich neben mir löste. Sie rannte zu einem schlaffen Körper. Nur durch das Heben und Senken des Brustkorbes sah man, dass derjenige noch lebte. Sie hingegen verwandelte sich wieder in einen Menschen und wisperte hilflos: »Wo ist mein Vater?« Sie drückte sofort mit ihren schmalen Fingern auf eine große Wunde am Bauch des jungen Mannes. Er röchelte vor sich her, versuchte etwas zu sagen, doch ich spürte sofort, dass sie nun im Kopf miteinander kommunizierten. Allerdings nicht gerade lange, denn binnen weniger Sekunden, stockte sein Atem. Schließlich verglomm er ganz. Er starb. Wie so viele andere.

Automatisch senkte ich meinen Kopf und schluckte schwer. Meine Kehle war staubtrocken. Traurig drehte sich Clara weg und wischte sich eilig über die Wangen. Sie weinte still und leise, ohne dass wir es sehen konnten, kam aber trotz dessen zu uns zurück und murmelte: »Hier sind nicht mehr allzu viele... außer...« Clara sah mich an. »Duncan und Shane! Und ein paar andere noch in der Umgebung. Sonst sind die beiden Rudel hinter Jonathan her, der natürlich abgehauen ist, weil er in der Minderheit war« und auf der Stelle streckte ich ungeduldig die Schnauze in den Himmel.

Ich musste Duncan finden. Er war verletzt und wenn die beiden... Was wenn Shane...? Verdammt. Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber ein leises Winseln ließ mich zurückzucken. Es war Gary, der mit dem Kopf in eine Richtung lenkte und unvermittelt begann loszustürmen. Dylan folgte, sowie Viola. Dann sah ich etwas Hellbraunes aufblitzen. Es war Clara, die sich schon wieder in einen sandfarbenen Wolf verwandelte.

White Moon - Kiss of the WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt