Kapitel 96

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Die Sanduhren erinnern nicht bloß an die schnelle Flucht der Zeit, sondern auch zugleich an den Staub, in welchen wir einst verfallen werden.


Eigentlich dachte ich, dass sich Sterben leichter anfühlt, aber irgendwie war es nicht an dem. Würde man sagen, es war schwer, stimmte das ebenso nicht. Ganz im Gegenteil. Es tat so sehr weh, dass ich glaubte noch immer zu existieren. Ein kleiner Teil meines Ichs sagte, dass ich sofort wieder zu mir kommen sollte. Der andere wollte bloß noch so weit weg wie möglich. »Heaven!«, nahm ich augenblicklich aus weiter Ferne wahr und bemerkte, dass es mein beschissener Vater war, doch ich wollte nicht darauf reagieren, bis sich plötzlich zwei Hände um meinen Hals legten. »Mach sie los!«, sprach er hektisch und jemand anderes fuchtelte an meinen Fesseln. Ich ließ meinen Körper weiterhin schlaff hinabhängen. Hatte man mich denn wo anders hingebracht? 

Auf dem Boden lag ich wie zuvor nicht. Alles war so verwirrend. Eigentlich wollte ich auch an nichts mehr denken, weil es mir zu viel wurde und ich mir eigentlich den Tod herbeiwünschte. Aber was war nun? Ging ich innerlich noch mehr zugrunde? Funktionierte das überhaupt? »Mensch, was soll denn der Mist? Was machst du da?«, hörte man Jonathan nun weiter an meinem Ohr und an mir wurde herumgerüttelt. »Ist das denn so schwer mal das zu tun, was ich sage? Stellt euch doch nicht so an. Wir müssen sofort verschwinden.« Ich verstand nicht, was er damit meinte, denn eigentlich wollte ich erst darüber nachdenken, schaffte es leider nicht.

»Ist sie das wirklich wert?«, fragte der andere und ich hörte den Mann heraus, der wahrscheinlich mein Neuer sein sollte. Noch immer hielt ich meine Augen geschlossen. Vielleicht war das auch besser so, denn ich wollte nicht das ganze Blut im Raum sehen. Überhaupt nichts mehr. »Vergiss nicht wer sie ist. Sie ist meine Tochter. Auch wenn sie nur Mittel zum Zweck ist. Noch ist sie wichtig. Also reiß dich zusammen und mach hin!« Nebenbei hörte ich etwas rascheln, schlussendlich etwas klimpern und ein scharfer Schmerz machte sich in meinen Handgelenken breit. Einer stach mit dem Messer an den Ketten herum, um diese aufzubrechen. Aber anstatt auf mich zu achten, schien es egal zu sein, ob ich weiterhin verletzt wurde. »Wenn du nicht sofort die Augen aufmachst, werde ich dich anderweitig dazu bringen!« 

Auf der Stelle dachte ich daran, wie mich mein eigener Vater folterte und versuchte so weit wie es ging, ihm ins Gesicht zu schauen. Ich hasste dieses. Wollte es niemals wiedersehen, aber es war auch nichts zu machen, dass er nun einmal in meinem Leben präsent war. »Was?«, raunte ich und meine Stimme klang nicht mehr nach mir selbst. Ganz im Gegenteil. Es war nicht zu beschreiben. »Planänderung. Wir verschwinden.« Ich starrte ihm in die kalten Augen und wusste nicht, was das alles sollte. Wieso mussten wir weg? Hatte er nicht das, was er wollte? Vollkommen neben der Spur bemerkte ich, wie meine Arme nach unten sackten und ich gleich mit. Es war schwer mich auf den Beinen zu halten, da ich schon eine Weile an der Wand hing und als ich mich dann doch umschaute, sah ich gar nicht so viel Blut, wie zuvor. Was soll das? Bin ich plötzlich wieder woanders? 

Jonathan musste meinen Blick bemerkt haben, weil er unverhofft antwortete: »Du warst bewusstlos!« und er zeigte auf Duncan, der nun stand. Er war da. Er lebte. Eilig schaute ich nach unten zu meinem nackten Bauch. Alles war wie zuvor. Ich war noch immer schwanger. Oh, mein Gott. Träumte ich das bloß? Oder war lediglich das nun ein Traum? Ich wusste es nicht und um ehrlich zu sein, waren beide nicht gerade schön. River starte mich hingegen an. Die Spritze, die ihm mein Vater in den Brustkorb rammte, lag auf dem Boden. Sein Körper war komplett angespannt. Ich wusste, dass er womöglich am liebsten die Ketten aus der Wand gerissen hätte. »Fass sie nicht an«, knurrte er und man hörte klar und deutlich die Stimme seines Wolfes.

Verdammt. Er sah echt schlecht aus. Die tiefen Wunden würden jeden in die Knie zwingen, doch nun wusste ich nicht, ob es an dem Zeug lag, was sich in der Spritze befand; das Adrenalin, was direkt von seinem Körper ausging, weil mir eventuell etwas passierte, oder doch nur sein Wolf der die Kontrolle über alles und jeden haben wollte. Womöglich war es auch alles zusammen. Davon konnte er mir jedoch mal etwas abgeben. Ich hatte nämlich keine Kraft mehr. Ich war extrem schwach, doch ich fiel nicht auf den Boden, da mich widerliche Hände an der Hüfte packten. Es war der Fremde, den Duncan am liebsten zerfleischt hätte. »Ich werde euch alle umbringen. Auch wenn es das Letzte ist, was ich tue«, brüllte er ohrenbetäubend.

White Moon - Kiss of the WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt