Epilog

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Eine Stimmung wie Glas... Glasklar?
Milchig trüb, kein Spaß. Sonderbar! Gedankensplitter treiben 
Glassplitter - im Körper bleiben - Nachgeschmack: bitter! 


Ich starre nach draußen in die Weite. Hier ist es ganz anders, wie in der Stadt, in der ich zuvor ein paar Wochen lebte und so viel Schlimmes erfahren musste; auch anders wie in meiner eigentlichen Heimat. Alles haben wir dort zurückgelassen und ich begleitete meinen Onkel mit nach Europa. Wir suchten uns einen neuen Platz für das gesamte Rudel. Das heißt, es waren die Wölfe von Duncan und auch die von William dabei. Nun sind wir ziemlich groß, was aber hier an diesem Ort keine wirkliche Aufmerksamkeit unsererseits mit sich zieht. Nordirland ist echt schön und zum ersten Mal, sehe ich etwas anderes als elende Nadelbäume oder ein erbärmliches Kuhkaff. Ballycastle scheint ein guter Ort zu sein, um den Rest seines Lebens in Frieden zu verbringen. 

An der Nordküste sind die Felsen riesig. Hohe Wellen bringen den gesamten Anblick immer wieder zum Träumen. Die Einwohnerzahl, nicht einmal sechstausend, lässt für unser Rudel genügend Platz. Wunderschöne grüne Wälder umsäumen unser neues Zuhause und man kann sich nur wohl fühlen. Alles andere wäre gelogen. Kein Streit. Kein Hass. Nur Frieden. Seit dem Tag vor der Villa von River, sehe ich das Leben mit ganz anderen Augen. Ich genieße jeden Tag und weiß auch, wie schnell einem alles aus den Händen gleiten kann. Jeder sollte sich im Klaren darüber sein, was er besitzt. Nicht darüber meckern, was man haben könnte, sondern bloß jeden Wimpernschlag genießen, auch wenn nicht immer alles so rosig scheint. Ich kann das sagen. Ich habe genügend Scheiße erlebt, dass ich definitiv davon ein Buch schreiben könnte. Gewalt. Tod. Liebende Menschen, die man nie wieder sieht...

Ich streife mir eine verlorengegangene braune Strähne aus dem Gesicht und bewundere den perfekten Horizont. Es ist so wunderschön. Wie gemalt breitet sich das Meer in einigen Metern Entfernung vor mir aus. Von hier kann man meilenweit sehen. Es dauert nicht mehr lange, dann wird die Sonne untergehen und die Frische des Windes wird eisig. An das Wetter muss ich mich eindeutig gewöhnen, aber das bekomme ich schon irgendwie hin. Wie sagt man so schön: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Vielleicht gilt das auch für mich. Alles ist besser, als dort, von wo ich herkomme.

Kurz schweifen meine Gedanken wieder zu Dan. Seit dem Vorfall, wenn man das so sagen kann, sind einige Monate vergangen. Noch immer suchen mich nachts Alpträume heim und ich habe wirklich manchmal Schwierigkeiten zur Ruhe zu kommen. Die Zeit heilt bekanntlich alle Wunden. Womöglich stimmt etwas an diesem Spruch. Doch nur ein klein wenig... Jedoch wird es wirklich besser. Von Tag zu Tag. Von Woche zu Woche. Von Monat zu Monat. Und irgendwann werde ich diese grausamen Erinnerungen endlich in die letzte Ecke meines Kopfes vergraben können. 

Ein leichter Windzug durchfährt meine nun extrem langen Haare. Sie reichen weit über meinen Hintern. Ich will sie nicht abschneiden. Ich finde sie schön und immer wieder, wenn ich in Gedanken versinke, sitze ich am geöffneten Fenster und kämme sie, oder ich stehe bloß da und starre in die Weite hinaus. Eines von beiden ist meist der Fall. Es beruhigt mich ungemein, aber noch immer versuche ich oft die leidlichen Bilder somit von mir zu schieben und das ist echt schwerer wie man denkt. Ich schlucke, umwickle mich selbst mit meinen Armen und presse die Lider zusammen. Es wird stetig frischer. Ich zittere trotz der Decke, die ich mir selbst noch kurz davor um die Schultern legte, aber das lässt mich nicht zurückweichen. Ich kann nicht. Mein Blick schweift in den roten Himmel hinauf. Was machen die Menschen, die ich liebe und nicht mehr bei mir sein können?

Werden sie im Himmel tanzen? Auf mich herabsehen? Sogar auf mich warten, wenn meine Zeit gekommen ist? Trotz der fehlenden Anwesenheit jeden Augenblick bei mir sein und mit mir fühlen? Ich hoffe wirklich darauf, dass noch etwas anderes nach dem Tod existiert. Man weiß ja nie. Und einen winzigen Moment huscht sogar ein kleines Lächeln über meine Lippen. Plötzlich höre ich jedoch unverhofft die Tür im Nacken. Eigentlich will ich lieber meine Ruhe haben. Wenigstens ein paar Minuten. Als ich prompt in das Gesicht meiner Halbschwester Viola schaue, seufze ich auf. Ich habe sie schon längst gehört, aber dachte erst, sie lässt mich noch einen Augenblick allein. »Hey. Willst du den ganzen Abend hier drinbleiben?« Ihre nun kinnlangen Haare trägt sie glatt nach unten. Man sieht ihr deutlich an, dass die ganze Situation mit unserer Mutter, ebenso auch nicht an ihr spurlos vorüberging.

White Moon - Kiss of the WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt