Kapitel 90

2K 117 12
                                    

Der Schmerz ist leben.


Wenn Josh zu diesem Zeitpunkt ein Mensch gewesen wäre, hätte er mir definitiv den Hals herumgedreht. Er sah aus, als platze er regelrecht jeden Moment. Das bräunliche Fell plusterte sich auf und die Augen funkelten extrem gefährlich. »Du bist echt bescheuert. Weißt du, was Duncan mit mir machen wird, wenn ich mit dir bei ihm auftauche? Du nimmst das alles nicht ernst genug. Er wird mich lynchen und nicht nur das. Er hat selbst keinen Plan. Das war nicht so gedacht, dass wir deine Mutter besuchen und auf einmal... überrascht werden.« Das konnte ich mir denken.

»Glaubst du, dass es noch jemanden geben wird, der das Rudel ausspioniert?«, schoss mir plötzlich unverhofft durch den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, aber ich denke mal nicht. River hat gehofft, dass dein Vater sich noch ein bisschen Zeit lässt und nicht so nahe an die Stadt herankommt.« Ich leckte mir über die langen Reißzähne. Das ist wohl nach hinten losgegangen. Ich wusste zwar, dass die Wölfe ihre Identität für sich behielten und Jonathan hätte ich auch nicht so eingeschätzt, dass er in Kauf nahm, dass man uns entdeckte, aber da dachte ich augenblicklich an Duncan, wie er Gary und mir als Wolf hinterherrannte, nachdem der Vorfall mit dieser dunkelhaarigen Schlampe passierte, weil er sie noch ins Haus ließ und so tat, als hätte er Interesse an ihr.

Aber hatte mein Vater es denn so nötig? Weshalb wartete er nicht? Musste er unsere Art deswegen fast verraten? Ich konnte gar nicht groß darüber nachdenken, da wurde ich auch schon schlagartig zur Seite gerissen. Ich flog drei Meter nach links und krachte lautstark und mit einem schneidenden Zischen in den harten Dreck. Das alles kam so unverhofft, dass ich erst einmal gar nicht wusste, wo ich mich überhaupt befand. Ich brummte auf, weil dadurch meine Schulter schmerzte und blickte mich auf der Stelle wild um. Josh war gar nicht weit von mir entfernt. Er schaute sich nur nervös um, wobei Clara in meine Richtung sprang und genau neben mir vermutete ich erst einen Fremden, aber es war Shane.

»Was soll die Scheiße?«, knurrte ich ihn sauer an, richtete mich wieder auf und scharrte mit meiner rechten Vorderpfote ungeduldig im Dreck herum. Allerdings kam die Antwort ziemlich schnell, da ich augenblicklich wusste, warum er das tat. Vor uns brach nämlich ein dicker schwerer Baum zusammen und hätte er bloß dagestanden und nichts getan, wäre ich sicherlich nicht so glimpflich davongekommen. Normalerweise hätte ich mich bedanken sollen, aber auch wenn er der Mate von Clara war, tat er mir so viel Schlimmes an, dass er mir wahrscheinlich mein ganzes Leben lang, den Arsch hätte retten müssen. 

Deswegen nickte ich ihm nur nebenbei zu, wobei auch schon Josh zu mir eilte, mich mit seiner Schnauze an der Nase berührte und fragte: »Alles okay mit dir? Wir müssen hier endlich verschwinden. Los komm schon.« Nun klang er noch nervöser und ich spürte auch klar und deutlich, dass er wahrscheinlich selbst bald durchdrehte. Ich verstand ihn irgendwo. Denn beim genaueren Betrachten unserer Situation, befanden wir uns in einem brennenden Wald, der uns bald zu verschlucken drohte. Durch unser Gespräch war es auch nicht besser geworden. Überall züngelten die Flammen und wäre mein Fell nicht von Natur aus schwarz gewesen, sähe ich womöglich wie ein Stück Kohle aus. Ungeachtet dessen glänzte es nicht mehr wie sonst, sondern fiel matt und strohig nach unten.

Nun schweiften meine Blicke immer wilder umher. Wir brauchten einen Weg und ich wusste, dass ich es konnte. Ich musste mich nur konzentrieren und fand River sofort, doch wie sollte ich das anstellen, wenn ich totale Panik im Inneren schob? Egal. Ich musste es schaffen. Auf der Stelle schloss ich die Lider und probierte die Geräusche wahrzunehmen. Da war häufiges Knacken von Ästen, die hinabfielen. Stetiges Zischen des Feuers. Prompt versteifte ich mich noch extremer, um mehr herauszufiltern. Es fühlte sich an, als würde ich zwar die Augen geschlossen haben, aber dennoch durch den Wald streifen. Faszinierend, wie sich die Bilder vor meinem inneren Auge manifestierten. 

White Moon - Kiss of the WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt