Kapitel 99

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Liebe macht nicht blind. Der Liebende sieht nur weit mehr als da ist.


Ich konnte es nicht fassen, wer da vor mir saß. Scheiße. War das Schicksal oder was? Die Ohnmacht, die ich noch zuvor verspürte, ließ mich schwindelig werden. Es lag nicht daran, dass ich Angst empfand. Eher Erleichterung. »Josh!«, rief ich den Namen und warf mich in seine Arme. Da er in der Mitte saß, war der Weg zum Glück nicht zu weit und er legte beruhigend seine Hände auf meinen Rücken, doch schon jegliche Berührung tat weh und ließ mich schmerzlich zusammenzucken. Am besten wäre, wenn ich überhaupt nichts mehr fühlen würde, dachte ich. »Wo ist Duncan!«, wurde meine Stimme nun panischer und grünbraune Augen hefteten sich forschend auf meine. Er war nicht mit im Wagen. Das hieß, dass er entweder noch dort war, wo Jonathan ihn zurück ließ oder... ach was weiß ich

Schlimmeres wollte ich mir gar nicht wirklich vorstellen. Aber was, wenn er schon tot war und ich durch meine fehlende Wölfin es gar nicht bemerkte? »Beruhige dich. Raste ja nicht aus. Das wäre nicht der passende Zeitpunkt dafür. Wir haben ihn. Er ist vor uns schon an der Klippe gewesen.« Das verstand ich nicht. »Aber ich habe kein anderes Auto aus eurer Richtung kommen sehen« und ich schaute ihn verwirrt an. Hätte er dann nicht vorbeikommen müssen? Ich hätte ihn doch gesehen... Oder wollte mich Joshua nur beruhigen? »Konntest du nicht. Wir sind hinter Duncan zum Stehen gekommen. Er hatte Schiss, dass du noch dort unten bist. Du hast ihn gesehen und du weißt auch, wie es ihm geht. River kann nicht hierbleiben. Wir müssen uns um ihn kümmern. Da wir in der Nähe waren, haben wir den Unfall auch mitbekommen. Deswegen sind wir, so schnell wie möglich; zu dir. Wir waren nicht weit und haben auch zuvor noch gesehen, wie Jonathan dich in den VAN verfrachtet hat.«

Nichtsdestotrotz war alles andere erst einmal egal. Mich interessierte nur, ob mit Dan alles okay war. Ich konnte mir über diesen Absturz keine Gedanken machen, oder auch, dass mein Körper irgendwann zusammenbrach. Wie viel konnte man überhaupt, als ein Wesen wie wir es waren ertragen, ohne entweder komplett den Verstand zu verlieren oder gar umzukippen? »Wie geht es ihm? Wo wird er hingebracht? Wer sind die Männer hier im Auto?« Meine Worte überschlugen sich fast und mein Blick fiel auf den Typen neben Josh. Wer ist das? Ich kannte ihn nicht und konnte ihn auch nicht einordnen. Auch der Geruch war mir fremd. Allerdings sahen mich seine Augen eindringlich an. Sie waren ähnlich wie meine, aber doch so anders. 

Erst sagte er nichts dazu, aber da er meinen intensiven und verwirrten Blick bemerkte, begann er dann zugleich: »Hallo, Heaven. Die Umstände, dass wir uns so kennenlernen sind zwar nicht wirklich berauschend, aber ich glaube, es ist nun an der Zeit, dass wir uns miteinander bekannt machen. Ich bin William. Der Bruder deines Vaters!« Es dauerte einen Moment, bis ich überhaupt realisierte, was er da sagte. »Und der Vater von Viola«, kam sofort und ohne nachzudenken, aus meinem Mund. »Und nicht zu vergessen, dein Onkel.« Ich schluckte. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Zwar hatte ich meine Eltern verloren, die sich achtzehn Jahre um mich kümmerten und ebenso meine leibliche Mutter, aber wenigstens ist mir noch etwas Familie geblieben. 

Fast hätte ich angefangen zu heulen. Zwar verspürte ich in diesem Moment kein wirkliches Glück, doch da sich meine Gefühle überschlugen, fühlte ich mich verdammt unsicher und... komisch. Hoffentlich ist er nicht wie Jonathan. Damit konnte ich nicht leben. Deswegen nickte ich nur verhalten, aber Josh legte mir beruhigend eine warme Hand auf meinen nackten Schenkel. »Du brauchst nicht misstrauisch zu sein. Wir können ihm vertrauen.« Ich realisierte erst, was er da sagte, als ich spürte, wie der Ford um eine scharfe Rechtskurve schlitterte. Der Fahrer hatte den Wagen vollends unter Kontrolle und ich fühlte mich auch bei diesem rasanten Fahrmanövern eindeutig sicherer, wie in dem Auto meines Vaters.

White Moon - Kiss of the WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt