Kapitel 93

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Es gibt zwei Arten von Schmerz. Der Schmerz, der dich verletzt und der Schmerz, der dich verändert.


»Glaubst du, dass ich ihn mir nicht hätte schon eher holen können?«, fragte mein Vater in die Runde und schaute sich in diesem Raum um. Kurz streifte sein Blick mich, dann den von Duncan, der sich gar nicht mehr bewegte. Der andere Mann stand andererseits wie ein Soldat genau neben der Tür und starrte auf einen Punkt. So, als ginge ihm das alles am Arsch vorbei und als besäße er keinerlei Emotionen. Wie macht mein Vater das bloß? Wir waren zwar Wölfe, aber keine Monster. Jeder von uns hatte doch Gefühle und manchmal kam ich mir sogar vor, als wären sie nach meiner Verwandlung schlimmer wie je zuvor. Unkontrollierbar.

Noch immer blickte ich auf den leblosen Körper meines Mates. Die Tränen kullerten von meinen Wangen und ich sah gar nichts anderes mehr. Auch Jonathan bekam ich nur ganz nebenbei mit. »Es war eine Leichtigkeit und das du und deine Schwester...« Schlagartig huschte etwas über das Gesicht meines Vaters, was ich nicht ganz einordnen konnte. »Geht es ihr gut?«, wollte ich mit rauer Stimme wissen und er schaute direkt in meine Augen. »Ich habe sie nicht, falls du das wissen willst« und erleichtert seufzte ich auf. »Sie steht auch nicht auf meiner Liste, der Leute, die ich brauche. Sie ist sowieso nicht meine Tochter.« 

Ohne Umschweife riss ich die Lider nach oben. »Sie ist was nicht? Ich dachte...«, begann ich zu stottern. »Ihr habt zwar die gleiche Mutter, aber sie ist nicht mein Kind. Hast du nicht gemerkt, dass sie zu schwach für uns ist? Auch du könntest viel stärker sein, wie du denkst. Es beinhaltet nur etwas Übung und einen guten Lehrer. Hätte sich River mit dir mal richtig beschäftigt, dann wärst du eine wirkliche Herausforderung für mich gewesen, aber so...?« Schon fast widerwärtig glotzte er mich an, als wäre ich nichts weiter, wie Dreck. »Wie blöd kann man nur sein?« Er bezog es auf meinen Sturz und lachte dabei noch gehässig auf. »Aber das macht die Sache nur zu einem Kinderspiel.« 

Natürlich versuchte ich nicht mehr auf die Worte zu achten, sondern mich interessierte das mit Viola viel mehr. Weiß sie das? Wenn ja, dann hätte sie es mir mit Sicherheit gesagt. Allerdings war da die Frage, wo ihr leiblicher Vater steckte. Des Weiteren musste ich an Jonathan denken. Wenn meine Mutter mit einem anderen Mann nach ihm eine Beziehung führte, wär es eine Genugtuung gewesen, diesen zu töten. Auf der Stelle dachte ich an die Menschen, bei denen ich aufwuchs. Fast war ich mir sicher, dass er nicht mehr lebte. Außerdem konnte ich mit meiner Fragerei vielleicht Zeit gewinnen und eventuell funktionierte es zumindest bis Duncan doch wieder zu Bewusstsein kam. Das war zu hoffen.

Womöglich kam Hilfe herbeigeeilt oder mir fiel auf die Schnelle etwas ein. Hauptsache etwas passierte und das zu unserem Vorteil und nicht für den meines Vaters. »Warum ist Viola nicht von dir? Das versteh ich nicht. Sie ist jünger wie ich«, versuchte ich zu sprechen, doch das war extrem schwer. Ich fühlte mich unendlich müde, wollte nicht nur schlafen, sondern das alles endlich hinter mir haben. Rivers Augen hingegen waren noch immer geschlossen und so schnell öffneten sie sich auch nicht mit Sicherheit. Dass er zäh war, wusste ich, aber es tat mir weh ihn so zu sehen. Überall klebte Blut und tiefe Schnittwunden an seinem Leib und war kaum wiederzuerkennen. Was hatten sie ihm nur angetan? 

Aber es war noch alles ziemlich frisch. Definitiv fand er mich vor wenigen Stunden, startete wieder Alleingänge, um mir zu helfen, und vergaß dabei alles um sich herum, weil ihn der Zorn auffraß. Oder schlimmer noch... wenn alle anderen bei ihm waren und sie es nicht schafften, sondern dieses Schwein ihn nur am Leben ließ, um mich zu demütigen. »Deine Mutter war eine Schlampe. Aber das ist ja nichts Neues«, knurrte er. »Es war gar nicht lange nachdem du geboren wurdest. Mein Bruder aus Boston kam zu einem Besuch. Der Besuch beinhaltete schlussendlich, dass er mit meiner Frau ins Bett stieg. Stell dir das mal vor... Mein eigener Bruder und deine Mutter.« 

White Moon - Kiss of the WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt