Kapitel 83

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Leben ist tödlich.


Meine Glieder wurden unbeholfener. Das lag nicht daran, dass es mir in diesem Moment an etwas mangelte, sondern dieser wohl einer der schwersten Schritte meines Lebens war. Die Schwerkraft ließ sich nicht aufhalten. Stetig holte sie mich in Richtung Boden, wohingegen ich froh sein konnte, dass Duncan an meiner Seite lief. Er versuchte zwar immer wieder seinen Arm um meine Schulter zu legen, was ich auch nicht schlimm fand, doch ich brauchte Luft.

Trotz, dass wir durch den dunklen Nadelwald gingen, kam es mir vor, als hätte man mir meine Lunge herausgerissen. Der Sauerstoff wollte nicht durch meinen Hals strömen. Er engte mich eher noch mehr ein, als wolle er, dass ich ersticke. Schonungslos ließ er mich in einem Strudel der Quälerei zurück. Stetig schüttelte ich Rivers Arm von mir ab, obwohl er es nur gut meinte, aber es ging nicht anders. Ich musste diese Schritte allein gehen. Er half mir zwar zu einem kleinen Teil mit seiner Anwesenheit, doch innerlich fühlte ich mich trotz dessen verdammt einsam.

Dieses Gefühl der Hilflosigkeit konnte auch er nicht von mir nehmen. Meine Lippen waren wieder komplett ausgetrocknet und die besorgten Blicke von meinem Mate, der an meiner linken Seite lautlos durch das Unterholz lief, und seinem Bruder, der an meiner Rechten sich durch Bäume einen Weg bahnte, waren ziemlich besorgt. Viola war ebenso nicht weit weg. Vielleicht fünf Meter hinter mir. Dabei kam mir ihr Schluchzen vor, als würde sie genau neben mir gehen. Das machte alles bloß noch schwerer und erneut erinnerte ich mich daran, dass manchmal echt alles zwecklos zu ein schien.

Das Schicksal konnte man nicht aufhalten. Was hätte ich nur dafür gegeben meine Mutter zu retten? Aber leider waren auch wir nicht unsterblich. Zwar stärker, wie ein normaler Mensch, doch im Grunde genommen auch nur Lebewesen, die irgendwann das Gras von unten sahen. Augenblicklich dachte ich an Vampire, die man nicht mir solch einer Wunde getötet hätte. Dass sie nicht existierten, war mir bewusst, obwohl es doch reichlich irrsinnig klang, wenn man daran dachte, dass es uns auch gab und wir eigentlich nur in Büchern existierten. Unvorstellbar das Ganze.

Wäre ich eine normale Frau gewesen, hätte ich ein sicheres Leben führen können. So sah die Welt jedoch anders aus. Für andere wäre es nur eine Seite aus einem Buch. Für mich die reine Wahrheit. Nichts als die Wahrheit, die mich wahrscheinlich noch immer nicht erreicht hatte. Fassungslos hätte ich sein müssen. Dabei nahm ich alles so hin wie es mir gegeben wurde. Was hätte ich auch anderes tun sollen? Was? Abhauen? Das konnte ich nicht. Immerhin gab es noch Duncan, der fest der Annahme war, nicht das Weite zu suchen und lieber hier zu bleiben, bis Jonathan tot war.

In dieser Situation dachte ich häufig daran, ob das alles so gut ging. Was, wenn es wirklich doch die beste Lösung ist? Was, wenn wir einen Platz suchen, wo mein Vater uns nicht findet? Ich schluckte schwer, weil Dan davon reichlich überzeugt war, dass Weglaufen nichts brachte. Womöglich war ich einfach auch nur zu feige um mich meinem Schicksal zu stellen, aber irgendwie tat ich das ja nun. Zumindest zu einem kleinen Teil. Schließlich liefen wir nicht umsonst im Wald herum. 

Es dämmerte langsam. Die Sonne ging bald unter und River konnte ich trotz alledem überreden sofort aufzubrechen, auch wenn ich spürte, dass es ihm nicht passte. Er wollte warten, aber ich konnte nicht. Wann sollten wir es denn sonst machen? Es war keine Zeit. Kurz dachte ich an die Augen meiner Mutter. Wie diese matt, leblos wurden und die verzweifelten Schreie von meiner Schwester im Hintergrund. Sie hatte sie auf Anhieb erkannt, wohingegen ich erst einmal realisieren musste, was da überhaupt geschah. Seit diesen Stunden passierte alles wie in Trance. Ich stand extrem neben der Spur und auch meinen kleinen Ausraster konnte ich kaum realisieren.

Wie sollte ich nun mit allem umgehen? Dann war da noch das Baby. Am liebsten hätte ich einen Psychologen aufgesucht, doch was hätte ich sagen sollen? Dass die Mythen von Werwölfen nicht stimmten? Dass wir uns nicht nur bei Vollmond verwandelten, sondern wann immer wir wollten? Dass wir eigentlich keine Bestien waren? Das klang doch lächerlich und war total konfus. Sie hätten mich gleich in die Geschlossene eingewiesen und womöglich nie wieder herausgelassen. Vielleicht sollte ich einfach mit James reden. Er war immerhin Arzt. Sicherlich hatte er ein Ohr für mich. Dennoch das ging genauso wenig. Eben, weil er in die ganze Sache involviert war. Verdammte Kacke.

White Moon - Kiss of the WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt