Kapitel 72

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Der Körper ist nur die Bühne deines Schmerzes, des Ereignisses hinter dem Schmerz.


Wie in Zeitlupe flog ich regelrecht durch die Luft. Allerdings war mir das egal. Hauptsache mir passierte nichts weiter. Zumindest dem Kind nicht. Doch ich konnte nicht zulassen, dass jemand meinen Gefährten tötete. Jonathan ließ mich eher am Leben, wie Duncan. Deswegen musste ich riskieren, meinen Vater aufzuhalten. Irgendwie. Zwar war ich weder als Wolf noch als Mensch wahrscheinlich stark genug, es mit ihm aufzunehmen; allerdings war mein Wille dafür umso großer und auch das Tier in meinem Innersten versuchte alle Kräfte, die es hatte zu sammeln, und für Duncan zu kämpfen.

Ohne wirklich darüber nachzudenken, wandte ich meinen Kopf nach links und biss unvermittelt zu. Ich wusste zwar zuallererst nicht, ob ich Jonathan tatsächlich erwischen konnte, doch ich probierte mein Bestmöglichstes. Meine Zähne durchschlugen schließlich Fell, bohrten sich auf Anhieb in etwas Weiches, anbei floss warme Flüssigkeit in mein schwarzes Maul. Der metallische Beigeschmack, ließ mich urplötzlich komplett alles ausblenden. Wie ein Ungeheuer im Blutrausch, schnappte ich erneut nach diesem grauen Wolf, der prompt zurückwich, weil ich doch stärker wie angenommen zu sein schien.

War es mein Wille? Oder doch die Verbindung zu Duncan? Es war mir egal. Nur eines war wichtig: Er muss aufgehalten werden, bevor Dan stirbt. Jonathans Augen leuchteten in einem intensiven Rot. Trotz alledem sah es bei mir sicherlich nicht viel anders aus. Nichtsdestotrotz fühlten sich meine stetig heißer an, als könnte ich ihn schon mit einem Blick töten. Bei meinem Vater hingegen verloren sie nach und nach an Stärke. Ich spürte es regelrecht. War es die Überraschung meinerseits? Sicherlich. Niemals nahm er an, dass ich versuchte einzuschreiten.

Jedoch knurrte es im Anschluss in meinem Kopf: »Du wirst ihn niemals retten können«, doch darauf ging ich gar nicht erst ein. Keinesfalls ließ ich zu, dass Duncan starb und niemals gab ich meinem Vater die Genugtuung, mich oder das Rudel zu zerstören. Zumindest gab mir in diesem Moment meine Wölfin Stärke. Wie es als Mensch aussah und wenn ich rational darüber nachdachte, wollte ich in diesem Moment gar nicht wissen, da ich womöglich sonst eingeknickt wäre. Nun bewies ich Stärke. Stärke, die Jonathan nicht kommen sah und es ihm womöglich schwerer machte, wie er dachte.

Ich fletschte meine Fänge, zeigte somit, dass ich mir von ihm nichts gefallen ließ und er mich mal kreuzweise konnte. Nebenbei bemerkte ich allerdings, wie Duncan auf dem Untergrund aufschlug. Er konnte sich überhaupt nicht mehr auf den Beinen halten und das machte die Lage nur noch beschissener. Somit erkannte jeder, dass seine Verletzungen doch schlimmer waren, wie er zugab. Da er zweifellos nicht unsterblich war, mussten wir auf schnellstem Wege verschwinden. Auf der Stelle. Sonst starb er mir womöglich vor meinen Augen noch weg und verblutete. 

Dieses Mal konnte ich kaum hinsehen, als er sich wieder in einen Menschen verwandelte. Sogar mein Vater war einen Moment nicht mehr daran interessiert es mit mir aufzunehmen, sondern starrte auf einen nackten verwundeten Körper. Das Problem war bloß, dass Dylan und Gary versuchten die anderen Wölfe aufzuhalten. Das hieß, die beiden schafften es nicht gleich zu Dan. Bisher lag nur ein Toter meines Vaters auf dem Waldboden. Augenblicklich schaute ich erneut zu River, wie er selbst so leblos da lag. Ich ertrug das Wissen keine Sekunde länger ihn in Gefahr zu sehen. Definitiv nicht. Leider hatte ich niemanden, der mir in diesem Moment half. Ich war komplett auf mich allein gestellt und dachte womöglich schon in diesem Augenblick wieder zu viel nach, anstatt auf meinen Instinkt zu hören.

Natürlich war ich dadurch kurz abgelenkt und musste somit einen festen Hieb von Jonathan einstecken. Quer über meinem Gesicht spürte ich Krallen, die meine Haut aufrissen. Ungeachtet dessen hatte ich etwas anderes zu tun, als mir nun darüber Gedanken zu machen. Nämlich, dass man die Situation ausnutzte und Duncan jeden Moment tötete. Möglicherweise stand er aber auch so ohne neue Verletzungen am Rande einer Klippe, die in jeden Moment in die Tiefe zerrte. Schockierend war aber für mich, als sich seine verzerrte Miene veränderte. Er erschlaffte und befand sich einen Moment später in einer Ohnmacht. Panik stieg natürlich sofort in mir hoch.

White Moon - Kiss of the WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt