Vielleicht doch ganz gut...

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Christian ist in diesem Outtake 4 Jahre alt.
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Eure Ina
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Dezember


Hungrig betrachte ich die Kekse vor mir.
Sie sind mondförmig und liegen aufgestapelt auf einem gläsernen Teller.
Oh, die sehen aber lecker aus!
Dennoch... ich wende mich von ihnen ab und schaue aus dem Fenster.
Draußen kann ich weiße Flocken entdecken. Bauschigleicht fallen sie vom Himmel und bezuckern unseren Garten.
Meine neue Mommy nennt es Schnee.
Im Haus ist es warm und von hier aus sehen die weißen Flocken eigentlich ganz schön aus. Die ganze Gegend ist schon weiß. Schneeweiß, genauso wie die Weihnachtskekse vor mir auf dem Teller.
Meine grauen Augen wandern wieder zu den Weihnachtsleckereien am Tisch.
Gierig strecke ich meine kleine Hand aus.
Finger schließen sich um den Keks vor mir.
Hmh lecker!
In mir breitet sich Freude aus, dann höre ich jedoch Schritte.
Sofort lasse ich den Keks los und ziehe die Hand zurück.
Lege sie in meinen Schoß und blicke einfach nur aus dem Fenster.
Draußen fällt noch immer Schnee.
Es dämmert bereits.
Der Duft von Kerzen, Weihrauch und noch etwas, das ich nicht zuordnen kann, liegt in der Luft.
Schritte kommen näher, dann betritt meine neue Mommy den Raum.
„Oh", lächelt sie, als sie mich bemerkt, „da bist du ja!"
Ich nicke – sage mit dem Kopf ja – und deute nach draußen auf die fallenden Flocken.
Grace lächelt warm.
„Beobachtest du den Schnee?"
Ich nicke, dann blicke ich auf die Kekse vor mir, nur um wenige Sekunden später meine neue Mommy anzuschauen.
‚Darf ich die essen?'
Wie gerne würde ich das fragen, aber die Worte wollen einfach nicht so, wie ich will. Sie bleiben Gedanken und so schaue ich Grace in ihrer beigen Weste einfach nur an und hoffe, dass sie versteht.
‚Bitte Engel deute richtig. Bitte verstehe, was ich meine... bitte.'
Graces Gesicht ziert ein freundliches Lächeln.
„Die Vanillekipferl kannst du ruhig mit den Händen essen", erklärt sie mir gut gelaunt.
V-Vanillie-Ipferl?
Oje!
Was meint sie bloß?
Hilfesuchend blicke ich sie mit meinen grauen Augen an.
Meine neue Mommy kommt näher und setzt sich neben mich auf den Stuhl.
„Ich zeig's dir, okay?"
Abwartend und fragend zugleich sieht sie mich an.
Sofort nicke ich, sage mit dem Kopf ja.
Will doch wissen, wie es geht.
Will doch ein braver Junge sein.
Will doch keinen Ärger machen.
Will, dass niemand schreit, will keine Schläge.
Will alles richtig machen ... und nichts falsch!
Will dem Engel zeigen, dass es richtig war... mich in dieses viel zu große Haus mit den abertausenden Zimmern zu holen.
Will, dass die Frau neben mir nichts bereut, was mich betrifft!
Grace lächelt warm, dann streckt sie ihre Hand aus und nimmt sich einen der mondförmigen Kekse.
Aha, die darf man also mit den Fingern essen?
Anderes Essen nicht ... Kekse schon? Falls das wirklich okay ist, muss ich mir das merken. Unbedingt!
Ich beobachte meine neue Mommy stumm.
Sie führt das mondförmige Ding zu ihrem Mund und beißt hinein, kaut und legt den Rest auf einer Serviette am Tisch ab.
„So", spricht sie sanft, „verstehst du?"
Ich nicke.
Okay.
„Und sie sind wirklich lecker", strahlt der Engel, „hier, koste mal!"
Mit diesen Worten streckt mir meine neue Mommy ihre Hand hin.
Ich betrachte das abgebissene, bezuckerte Etwas.
Ob ich wirklich soll?
Nicht, dass Lelliot mich wieder so komisch anschaut... oder etwas Dummes sagt...
Aber andererseits... der Engel hat gesagt, es ist okay.... und Grace vertraue ich.
Sogar sehr.
„Nur keine Angst", vernehme ich die Stimme meiner neuen Mommy.
Sie ist weich und sanft. Voller Wärme und Geborgenheit.
Ich ringe noch einige Sekunden mit mir selbst. Kann ich es wirklich wagen?
Wie es wohl schmeckt?
Süß oder salzig?
In mir macht sich die Neugierde breit... und letztlich gebe ich mir einen Ruck.
Jetzt oder nie!
Na los!
Zögerlich strecke ich meine Hand aus.
Der Engel bleibt ganz still. Bewegt sich nicht, während sich meine Finger dem weißbeigen Ding vorsichtig nähern.
‚Du hast es fast erreicht', meldet sich eine kleine Stimme in meinem Inneren, ‚nur noch ein Stückchen.'
Ja, nur noch ein kleines Stück.
Doch als ich den Leckerbissen fast erreicht habe, geht auf einmal die Schiebetür in der rechten Ecke des Raumes auf und Lelliot kommt hereingestürmt.
Ruckartig ziehe ich meine Hand zurück.
Grace schaut in Lelliots Richtung.
„Mommy, Mommy", strahlt er, „Daddy und ich haben einen Schneemann gebaut. Willst du ihn dir ansehen?"
Über Graces Gesicht huscht ein flüchtiges Lächeln.
Sie nickt, ehe sie dem blonden Lelliot sagt, dass sie sich seine Schneeskulptur von oben anschauen wird.
„Aber von unten siehst du sie doch viel besser", kontert Lelliot trotzig.
Nun wendet sich der Engel an mich.
„Wollen wir nach unten in den Garten gehen und Elliots Schneemann anschauen?" Wie zuvor ist ihre Stimme sanft und warm.
Zögerlich nicke ich.
Na gut.
Grace blickt wieder zu Lelliot.
„Wir kommen, Schatz", meint sie, und erhebt sich damit von ihrem Stuhl. Jedoch legt sie mir zuvor noch den halben Kecks vor die Nase.
„Du darfst probieren", höre ich ihre leise Stimme. Sie ist ganz nah neben meinem rechten Ohr. Kaum merklich zucke ich zusammen.
Grace richtet sich auf.
„Ich hol nur noch Christians Jacke, Elliot", lässt sie den blondhaarigen Jungen wissen, „dann kommen wir, gut? Lauf doch schon mal zu Carrick nach unten in den Garten."
Lelliot nickt.
Zu mir sagt er nichts mehr, aber mir ist das eigentlich egal.
Lelliot dreht sich um und verlässt in warmer Daunenjacke und Winterschuhen den geräumigen Raum. Ich höre Schritte, die sich entfernen.
In mir breitet sich Erleichterung aus.
Saugt sich in meinem Körper fest...
Ich versuche, das Gefühl festzuhalten.
Es fühlt sich gut an. Wenn der böse Mann manchmal für einige Zeit weg war, habe ich dieses Gefühl auch gehabt.
Ich blicke mich um.
Nun bin ich alleine.
Lelliot ist weg... und der Engel... ah ja, er holt meine Jacke... hat er zumindest gesagt.
Ich bin alleine.
Prüfend schaue ich mich noch einmal um, dann greife ich schnell nach vorne.
Meine Finger umfassen den Keks.
Geschwind lasse ich ihn in meinem Mund verschwinden.
Kaue.
Hmh.
Schmeckt wirklich lecker.
Ich bereue es nicht, ihn gegessen zu haben... im Gegenteil, ich bin froh darüber.
Vielleicht, ist es doch ganz gut, dass ich hier gelandet bin.
Hier in diesem unendlich großen Haus, mit den teuren Möbeln und dem guten Essen.
Dem großen Garten und dem wunderbaren Engel und dem netten Mann.
Ja, vielleicht ist es doch ganz gut... so wie es jetzt ist.

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