Hunger

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In dieser kleinen Erinnerung ist Christian Grey zweieinhalb Jahre alt.
Er lebt also noch bei Mutter Ella und deren Zuhälter.
Es wird wieder etwas düsterer.
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Dezember, 1985


Mühsam setze ich einen Fuß vor den anderen.
Ich kann nicht mehr.
Mir ist so kalt.
Ich kann nicht mehr weitergehen... bin zu erschöpft.
Müde bleibe ich stehen.
Meine Beine tun mir weh und mein Hals schmerzt.
„Wir müssen weiter mein Schatz", höre ich Mommy zu mir sagen, „Komm."
Aber ich will nicht mehr... will nicht mehr weiter... bin zu müde... viel zu müde... bin zu erschöpft.
Mir tut alles weh.
Wieder wird mir schlecht.
In den letzten Tagen tut mir mein Bauch sehr oft weh.
Mir wird schwarz vor den Augen.
Ich fühle mich kraftlos... ausgelaugt.
Gestern Nacht musste ich mich wieder einmal im Schrank verstecken, aber der Mann hat mich gefunden, wie jedes Mal.
Er will mich hier nicht sehen, hat er mich angefaucht, ich solle verschwinden.
Ich habe Mommy wieder schreien gehört.
Es war so schrecklich.
Mir wird speiübel.
Schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen.
Ich stolpere.
Gerade noch rechtzeitig fängt Mommy mich auf.
Puh, das war knapp.
Der Boden ist ganz schön rutschig.
„Na gut", sagt Mommy eher zu sich selbst als zu mir, beugt sich zu mir herab und nimmt mich auf den Arm.
Mommy geht weiter... beschleunigt ihren Gang.
Geht weiter durch die dicht beschneiten Straßen im Dunklen.
Wir sind in der Stadt unterwegs. Mommy will etwas besorgen.
Ich glaube etwas zu essen. Zu Hause haben wir nichts mehr... der große Mann hat alles aufgegessen... hat es Mommy und mir weggenommen, dann ist er gegangen.
Eine Weile waren Mommy und ich alleine im Haus, dann hat sie mich angezogen und wir gehen jetzt durch die Straßen.
Mir ist kalt.
Ich fröstle.
Mommy nimmt ihren Schal und wickelt ihn behutsam um mich.
Traurig blicke ich sie an.
Ich habe Hunger. Mir ist schlecht', will ich sagen, aber ich habe noch nicht gelernt, wie man ganze Sätze bildet. Noch immer blickt Mommy mich mit ihren schönen Augen an.
Sorge kann ich in ihnen entdecken.
Ich will nicht, dass Mommy traurig ist.
Sie darf nicht betrübt sein. Sie ist doch meine Mommy.
„Was ist los Christian?"
Mommy blickt mich fragend an.
Ich öffne meinen Mund... will es sagen... will ihr sagen, dass ich Hunger habe.
Ich atme ein... hohle Luft und setze an.
„Hun-ger."
Leise, ganz leise, verlässt das Wort meine Lippen.
Geschafft.
Traurig strecke ich die Hand aus.
Mommy schüttelt betrübt ihren Kopf.
„Tut mir leid", gibt sie mir mit seufzender, schwermütiger Stimme zu verstehen, „ich habe nichts."
Traurig blicke ich sie an.
In meinen Augen bilden sich Tränen.
Ich hab doch Hunger... solchen Hunger.
„Schon gut, wir finden etwas", lässt sie mich mit ihrer leisen, aber sanften Stimme wissen.
Suchend irrt ihr Blick durch die beschneite Gegend.
Mommy hält Ausschau... dann beschleunigt sie abermals ihren Gang... beginnt mit mir auf dem Arm zu rennen.
Sie scheint etwas gesehen zu haben, dass meinen Augen verborgen geblieben ist.
Mommy hastet durch die beschneiten Straßen.
Schnell.
Schneller.
Erbarmungslos weht der kalte Wind mir abertausende von weißen Schneeflocken ins Gesicht.
Erneut ist mir kalt.
Eiskalt.
Ich zittere, ehe ich meinen Kopf zu Mommy drehe, dann schmiege ich mich an ihre Brust.
So, jetzt ist der eisige Wind nicht mehr so unangenehm.
Plötzlich bleibt Mommy stehen.
Sie scheint ihr Ziel erreicht zu haben.
Ihr Atem geht schwer.
Sie wirkt erschöpft.
Bleib stark Mommy... ', schießt es mir durch den Kopf, ‚gemeinsam sind wir stark.'
Vorsichtig, ganz vorsichtig, schaue ich nach vorne.
Ich erblicke ein Fenster.
Hinter ihm leuchtet mattes Licht.
Mommy klopft an die Scheibe.
Zuerst zaghaft, dann lauter.
Klopft einmal. Zweimal. Dreimal.
Das Licht hinter dem Fenster wird heller, dann öffnet sich eine Tür.
Schreckhaft zuckt Mommy zusammen, ehe sie sich umdreht.
Ängstlich schmiege ich mich an Mommy.
„Alles okay mein Schatz", höre ich sie sanft zu mir sagen.
Beruhigend streicht mir Mommy über meinen Rücken.
Er tut mir noch immer von den Schlägen weh, die ich gestern von dem bösen, großen Mann abbekommen habe, aber ich lasse Mommys Berührungen zu. Sie ist die Einzige, die mich anfassen darf. Die Einzige... sonst darf das niemand...
Vorsichtig wende ich mich von Mommys Brust ab... blicke nach vorne.
Eine ältere Frau steht in der offenen Tür.
„Entschuldigen Sie die späte Störung", höre ich Mommy mit brüchiger Stimme sagen, „hat ihr Geschäft vielleicht noch offen. Wir würden gern..." Weiter kommt Mommy nicht...
„Sehen Sie nicht das Schild?", fragt die ältere Dame barsch an uns gewandt, „dort stehen die Öffnungszeiten drauf. Der Laden schließt um 18:00 Uhr... jetzt ist es 21:00 Uhr."
„Bitte, mein Sohn, wir brauchen etwas zu essen."
Mommys Stimme ist flehend.
Die ältere Dame bekommt große Augen.
Erst jetzt bemerkt sie mich... schaut in meine Richtung.
Ihre Augen weiten sich noch mehr, als sie mich halb verdeckt unter Mommys Tuch erspäht.
Mitleid kann ich in ihren grünen Augen entdecken.
„Selbstverständlich", höre ich die Frau sagen, „kommen Sie nur rein."
Dankbar nickt Mommy.
Ich kann ihre Erleichterung deutlich fühlen... denn dieses Gefühl durchflutet mich in diesem Moment ebenfalls. Die ältere Dame mit dem grauen Haar tritt beiseite und macht uns so den Eingang frei.
Noch immer mit mir auf dem Arm geht Mommy vorsichtig in das Innere des Hauses.
Drinnen ist es gemütlich. Warm. Freundlich.
Am liebsten will ich hier mit meiner Mommy für immer bleiben...
Wir bekommen etwas zu essen und zu trinken.
Heißen Früchtetee und warmen Schokokuchen.
Zuhause haben wir nicht so gute Dinge zu essen.
Zuhause ist es kalt... meistens unaufgeräumt... und es gibt nichts zu essen...
Ich hab doch solchen Hunger und Mommy auch.
Wir brauchen doch etwas zu essen.
Wenn ich mal groß bin, werde ich das ändern.
Ich werde den Kindern helfen, denen es so geht wie mir... die nichts zu essen haben.
Ich werde ihnen helfen.
Wie genau, weiß ich noch nicht, aber ich werde es tun.
Genauso, wie die nette, alte Frau Mommy und mir hilft.
Die fürsorgliche ältere Dame redet mit Mommy.
Über was sie sich unterhalten kann ich nicht genau verstehen.... Irgendetwas von vielen Kunden und schlechten Mitarbeitern.
Mommy nimmt noch einen Schluck aus ihrer weißen Tasse, dann gibt sie mir ein kleines Stück von dem warmen Schokoladenkuchen.
Hungrig schiebe ich es mir in den Mund.
Hmh schmeckt der lecker.
Ich will mehr.
Strecke meine kleine Hand danach aus.
Sofort versteht Mommy.
Glücklich lächelt sie, dann gibt sie mir das nächste Stückchen.
Zufrieden schiebe ich das warme Stückchen in meinen Mund.
Wie lecker.
Mommy betrachtet mich glücklich.
Und dann sehe ich es... ein Lächeln... ein zaghaftes, aber zufriedenes Lächeln.
Mommy ist so schön, wenn sie glücklich ist. So wunderschön.
Behutsam berührt Mommy meine Wange... blickt mich mit ihren Augen an.
Sie scheint mir in die Seele zu sehen.
Glücklich lächle auch ich zurück, ehe ich mir das nächste Stück warmen Kuchen in den Mund hineinschiebe.
Hmh schmeckt das lecker.
Mommy ist glücklich... und ich auch.
Der böse Mann ist weg... nicht hier... zumindest für eine Weile....

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