Mehrere Wege ins Klassenzimmer

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Hallo meine Lieben,

in dieser Oneshot ist Christian 15 Jahre alt.
Wie immer: Viel Spaß beim Lesen!

Grüßle Ina

PS: Dieser Outtake ist in der Mitvergangenheit geschrieben.
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„Das wird total toll und Jill hat auch gesagt, dass sie mitkommt", erzählte mir Tony gerade, als wir den Schulgang entlang zu unserem Klassenzimmer gingen. Ich nickte. Auf dem Flur waren so gut wie keine Schüler mehr, was mir wieder einmal sagte, dass Tony und ich uns etwas zu lange vor der ersten Stunde unterhalten und somit die Zeit komplett übersehen hatten. Dass wir heute also zu spät zum Unterricht kamen, war glasklar. Aber vielleicht hatten wir ja Glück und unser ach so „geliebter" Biolehrer war noch kopieren oder im Lehrerzimmer... oder aber auch...
Als wir um die Ecke bogen und ich somit Mr. Frost bemerkte, waren alle Fragen, die ich mir gerade eben gestellt hatte, mit einem Mal beantwortet. Denn unser „heißgeliebter" Biologielehrer war weder kopieren noch im Lehrerzimmer.
Ich zwinkerte kurz, schloss die Augen und öffnete sie wieder, um mich zu vergewissern, ob Mr. Frost wirklich da vorne vor der Tür stand durch die wir noch mussten, um ins Klassenzimmer zur ersten Stunde zu kommen.
Aber ich war wach.
Hellwach!
Und somit war Frosty auch da, stand hier vor der noch geöffneten Tür und gestikulierte wild und ungehalten mit den Händen.
Prima.
Unser Biolehrer war da, waschecht und quicklebendig.
Leider.
Wildgestikulierend stand er also da und redete auf zwei Mädchen ein, die die Köpfe gesenkt hatten und hin und wieder geknickt nickten. Ich kannte sie aus dem Unterricht. Auch wenn ich nicht ihre Namen wusste, so wusste ich, dass die zwei mit Tony und mir zusammen Biologie und Sport hatten. Es hatte ganz den Anschein, als wären die beiden Mädels auch zu spät dran, genauso wie Tony und ich, nur dass wir hoffentlich nicht bemerkt wurden.
„Fuck, Frosty", grummelte ich, „Wir waren schon viermal zu spät."
Wenn er uns bemerkte würde es Ärger geben.
Großen Ärger und meine Eltern würden verständigt werden!
Wieder einmal!
Ich hatte ihnen doch versprochen, ab jetzt besser im Unterricht aufzupassen und keinen Blödsinn mehr zu machen. Was sie wohl sagen würden, wenn sie von Frosty oder der Direktorin einen Anruf bekamen? Na ja, erfreut würden meine Eltern darüber bestimmt nicht sein.
„Komm, hier lang", unterbrach Tony meine Gedanken und ehe ich mich versah wurde ich schon nach links geschoben.
Jaja.'
Leise wie Schatten entfernten wir uns von Mr. Frost und den beiden Unglücksraben, die uns alle drei glücklicherweise nicht bemerkt hatten. Denn eines war klar: Auf Nachsitzen oder ein belehrendes Gespräch konnte Tony und genauso gut ich, nun wirklich verzichten.

Wir liefen den leeren Flur zurück und dann durch den Haupteingang ins Freie.
Draußen war es noch immer leicht kalt, was ich jetzt da ich meine Jacke nicht mehr trug deutlich spürte.
„Frosty in der ersten Stunde", sagte Tony neben mir etwas verärgert, „Nichts als Stress."
Kaum hatte er den Satz beendet klopfte er ein paarmal gegen die Fensterscheibe.
„Wie gut, dass es mehrere Wege ins Klassenzimmer gibt", lachte ich und musste dabei unweigerlich an den Hausarrest denken, den mir Mom und Dad einmal verpasst hatten. Damals war ich vierzehn gewesen und weil mir Mom strikt verboten hatte durch die Tür keinesfalls mein Zimmer zu verlassen, hatte ich als Fluchtweg einfach das Fenster, meinen Balkon und ein Seil benutzt. Bei meinen Großeltern war ich einmal übers Dach abgehauen, aber da das bei uns zu Hause nun mal nicht möglich war, hatte ich da kreativ werden müssen.
Jalousien die nach unten geschoben wurden und ein Fenster, das sich kurz darauf öffnete, erlangte meine Aufmerksamkeit. Tony stand nun vor mir und so musste ich an ihm vorbeischauen. Ein kurzer Blick genügte jedoch, um zu erkennen, wer uns da freundlicherweise das Fenster geöffnet hatte.
Rote Haare, schlank und einfach nur schrecklich dramatisch.
Rachel, die Klassenbeste und soweit ich wusste, war man ohne sie, laut einigen Personen, besser dran. Kurz gesagt: das Mädchen war ein echtes Miststück. Wobei Miststück noch nett ausgedrückt war.
Mit ihren olivgrünen Augen schaute genau dieses Mädchen uns jetzt ungläubig an.
Tony ignorierte sie und stieg gekonnt durchs Fenster in die warme Klasse ein.
Ich folgte seinem Beispiel.
Füße heben, auf das Fensterbrett steigen und dann hinunterspringen.
Einfach.

Sicher in der Klasse angekommen, verkrümelten wir uns schnell auf unsere Plätze und kramten geschwind unsere Schulbücher für Bio aus den Rucksäcken, ehe auch schon Mr. Frost, gefolgt von den beiden Mädchen, den Raum betrat.
„So, dann wäre das auch geklärt", sagte er eher zu sich selbst als zu seinen Nachzüglerinnen, schloss die Tür und verwies die beiden Schülerinnen auf ihre Plätze.
Dann durchquerte unser Biolehrer die vielen Tische, kam dabei an uns vorbei und stand letztlich vorne an der Tafel. Auf dem grünen Unterrichtsmittel stand dummerweise schon etwas darauf. Neben sehr schwer entzifferbarer weißer Schrift konnte ich noch eine Zeichnung entdecken, die wohl eine Pflanze oder so etwas in der Art darstellen sollte. Eines war mir somit zumindest klar: Frosty konnte eindeutig besser zeichnen als leserlich schreiben. Mit Sicherheit hätte ich das deutlicher geschrieben. Wenn nicht sogar meine kleine Schwester Mia!
„Nanu, wo kommt ihr denn her?", es waren nur sechs Worte, aber die erschreckten mich so dermaßen, dass Mr. Frost innerhalb von einer Sekunde meine vollste Aufmerksamkeit hatte.
„Ahm...", begann ich, jedoch fiel mir Tony prompt ins Wort.
„Wir waren doch schon vorhin da, Mr. Frost", sagte er, was ich ganz schön mutig von ihm fand.
„Tatsächlich?", entgegnete unser Lehrer etwas verwundert und schaute Tony prüfend an.
Dieser nickte bestätigend.
„Ja", sagte er, „haben Sie uns nicht gesehen?"
Kurz war es still. Frosty schien wohl nachzudenken, ob er uns wirklich gesehen hatte. Ich ließ meine Hände unter den Tisch gleiten und appellierte an sein schlechtes Gedächtnis.
„Tja", meinte Mr. Frost dann, „da muss ich euch wohl vorhin tatsächlich übersehen haben."
Damit wandte er sich von unserem Tisch ab und ging in Richtung Tafel.
„Dachte schon, ich muss alles zweimal erklären", hörte ich ihn nur noch erleichtert flüstern.
Reflexartig schaute ich zu Tony.
„Entspann dich", zischte er mir leise zu, „wozu gibt's Bücher, Tafel, oben, rechts."
Ich folgte seiner knappen Anweisung und schaute nach vorne. Und tatsächlich, oben im rechten Eck stand eine Seitenanzahl.

Schnell griff ich nach meinem Biobuch und schlug es auf der vorgegebenen Seite auf.
„Entschuldigung", fragte Tony neben mir, „ich habe durch den Krach vorhin nicht alles mitbekommen, könnten Sie das vielleicht nochmal wiederholen?"
Als hätte der Lehrer sich am Fußboden verbrannt blieb er abrupt stehen und drehte sich zu uns beiden um.
„Das wird nicht nötig sein", entgegnete er, „die Arbeitsblätter, wo alles detailliert draufsteht hat Peter am Beginn der Stunde ausgeteilt. Da drauf solltest du alles finden, was ich vorhin erklärt habe."
„Tja, da muss er UNS wohl vergessen haben", zischte Tony leicht säuerlich und warf dem blonden Jungen ein paar Reihen schräg vor uns einen mörderisch, bösen Blick zu, „denn ich habe so ein Blatt nicht, genauso wenig wie Christian, stimmt's?"
Ich nickte.

Blatt hatte ich immerhin auch keines.
„Und dass ihr beide verschlafen habt, ist dann wohl auch Peters Schuld, was?"
Hä?
Hatte er uns etwa doch bemerkt, wie wir durchs Fenster....
„Wie bitte?", fragte Tony gespielt ahnungslos. Ich fand, dass er das ziemlich gut konnte. Ahnungslos tun. Ich konnte nur hoffen, dass uns das auch aus dieser Situation heil herausbringen würde.
„Du hast mich schon richtig verstanden", entgegnete Frosty nur und wollte sich dann wieder der Tafel zuwenden, jedoch wurde er von meinem Sitznachbarn nochmals angesprochen.
„Ich weiß wirklich nicht, was das soll!"
„Du hast Recht", damit wandte sich Frosty wieder an uns, „Ich weiß auch nicht, was das soll. Seit wann werden denn heutzutage Fenster anstatt Türen benutz, um einen Raum zu betreten...?"
Nun sagte Tony nichts mehr.
Ihm hatte es wohl wie mir die Sprache verschlagen.
Einige der Schüler lachten, waren aber augenblicklich still, als Frosty sauer seinen Blick über sie, inklusive mir, schweifen ließ.
„Ja, glaubt ihr etwa, ich habe euch nicht gesehen, als ihr durchs Fenster ins Klassenzimmer eingestiegen seid?", fragte unser Biolehrer verärgert.
Ich schluckte.
Mist, wir hätten vielleicht das andere Fenster nehmen sollen.
„Unmöglich so etwas! Und JETZT raus", das war dann das Nächste, dass Frosty bedrohlich brummend von sich gab, „alle beide!"
Ich erhob mich und ließ alles liegen und stehen. Meine Schulsachen würde ich nachher holen, wenn es hier drin etwas ruhiger war. Tony schien das wohl auch so zu sehen wie ich, denn er nahm ebenfalls keine Hefte, Bücher oder seinen Rucksack mit nach draußen.

Vor dem Klassenzimmer mussten wir nicht lange warten bis Frosty zu uns stieß. Schweigend schaute er uns an, ehe er sich in Bewegung setzte und den Flur entlang ging. Als Tony und ich ihm wie artige Hunde folgten, was mir übrigens total gegen den Stich ging, wurde mir immer klarer wohin wir gingen.
Ins Direktorat.
Prima.
Ich war geliefert.
Hm, ob wir jetzt noch davonlaufen konnten?
‚Überlege dir das lieber zweimal, Grey! ... Oder dreimal!'
Okay, lieber nicht, das würde nur noch mehr Ärger geben.

Ach, wäre ich mal lieber durch die Tür gegangen.
Wer weiß, vielleicht hätte das weniger Aufsehen – und vielleicht auch weniger Ärger – verursacht.

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