Mein Schutzengel

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Ihr Lieben,


In diesem Outtake ist Christian noch immer 4 Jahre alt.

Habt viel Spaß beim Lesen. Ich bin gespannt, was ihr dazu sagt.


Grüßle Ina
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10. Juli 1988


„Warum nimmst du ihn ständig in Schutz", schreit Lelliot stocksauer, „nur weil er nichts spricht?"
„Elliot", mahnt Grace mit strenger Stimme.
„Nein, Mommy", kontert der blonde Junge wütend, „ich finde das voll unfair, immer er, immer er. Jedes Mal...."
Immer er.
Immer er.
Immer er.
In meinem Kopf hallen seine Worte wie ein Echo.
Augenblicklich wird mir schwindlig.
Immer er.
Immer er.
IMMER ER.
Ich halte mir die Ohren zu. Will die lauten Stimmen nicht mehr hören.
Tausende von Gedanken schießen mir in wildem Durcheinander durch den Kopf, aber ein Gedanke ist ganz klar und deutlich: Grace ist ein Engel... Grace ist mein Schutzengel, der mich behütet, egal was auf mich zukommt.
Sie ist hier, hier und hilft mir.
Dem blonden Jungen hilft sie natürlich auch.
Grace hilft immer... jedes Mal.
Ich schaue zu Lelliot.
Sein Mund bewegt sich.
Er redet noch immer aufgebracht vor sich hin, aber ich höre nichts... habe ja die Hände auf den Ohren... und das ist auch gut so.
Mein Engel erwidert etwas auf seine Worte.
Da in mir die Neugierde aufsteigt und ich unbedingt wissen will, was mein Engel denn zu Lelliot sagt, nehme ich vorsichtig meine Hände von den Ohren. Gespannt lausche ich.
„...ab auf dein Zimmer, junger Mann", höre ich den Engel streng sagen. Oh, mein Engel kann ja ganz schön böse sein, wenn er will.
Lelliot bleibt stumm, während er meinen Engel nur wütend anfunkelt.
Außer Vogelgezwitscher höre ich nun nichts mehr.
Der blonde Lelliot schaut nur böse den Engel an, dann wirft er mir einen säuerlichen Blick zu. Seine babyblauen Augen sprechen Bände. IMMER ER, scheinen sie zu sagen, IMMER ER.
Ich zucke leicht zusammen.
Lelliot schaut mich noch kurz trotzig an, ehe er sich umdreht und davonläuft.
Erst als seine Schritte in der Ferne verklingen, atme ich innerlich auf.
Endlich ist er weg.
Der Engel wendet sich nun an mich.
Schenkt mir ein kleines, freundliches Lächeln.
In mir breitet sich Wärme aus.
„Gehen wir ins Esszimmer?" Grace schaut mich fragend an. Geduldig wartet der Engel auf meine Antwort. Ich überlege kurz, dann nicke ich.
Ich bin froh, dass der Engel nicht mehr nach meiner Hand greifen will. Meine neue Mommy scheint endlich begriffen zu haben, dass ich Berührungen nicht mag.
Glücklich darüber, setzte ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Auch die vier Stufen hinauf in den großen Raum schaffe ich problemlos. Zum Glück!
Im großen Zimmer angekommen, steuert Grace den Tisch an. Für meine Verhältnisse ist er viel zu groß. Und auch viel zu viele Stühle stehen drumherum. Wozu man wohl so viele Sessel braucht, wenn doch nur vier Leute am Tisch sitzen? Auf diese Frage habe ich noch keine Antwort, aber irgendwann werde ich noch dahinterkommen.
Vorsichtig gehe ich auf den ovalen Tisch zu, an dem ich den netten Mann entdecken kann.
Der Engel nimmt auf einem der schwarzen Stühle Platz.
Grace blickt den netten Mann an, woraufhin dieser sich erhebt.
Ich bleibe stehen und beobachte.
Der Mann geht auf meinen Engel zu und streicht ihm leicht über den Rücken.
„Ich sehe nach ihm", meint er, ehe er sich abwendet und den Raum verlässt.
Ich schaue ihm hinterher. Er geht die Stufen hinunter, durchquert das Wohnzimmer mit dem weißen Schaffell. Passiert das cremefarbene Sofa, das schwarze große Piano. Nimmt dann die Holzstufe und verschwindet letztlich durch eine weiße Holztür. Dahinter liegt ein Gang mit einem weinroten Teppich, der gesäumt mit vielen weißen Holztüren ist.
Ich schaue wieder zu dem Engel, der betreten auf den Teller Apfelscheiben auf dem ovalen, viel zu großen Tisch, blickt. Was meine neue Mommy wohl beschäftigt? Sie wirkt traurig, ratlos...
‚Nicht traurig sein, bitte nicht traurig sein, mein Engel.'
Ich gehe auf sie zu, mache vorsichtig einen Schritt nach dem anderen, und ziehe mich schließlich auf dem schwarzen Stuhl neben ihr hoch.
Der Engel betrachtet mich und als ich letztlich richtig am Sessel sitze, lächelt meine neue Mommy mich freundlich an. Es ist nur ein kurzes warmes Lächeln, aber dennoch erkenne ich die Trauer darin. Ist mein Engel betrübt, weil er sich vorhin mit Lelliot gestritten hat? Oder ist er traurig, weil ich mich nicht anfassen lasse und lieber versuche allein klarzukommen?
Mein Engel schaut mich noch kurz an, dann blickt er wieder auf die knackigen Apfelscheiben am schneeweißen Teller.
Mein Blick bleibt an ihrem Handgelenk hängen, das regungslos auf der Tischplatte liegt.
Das mein Engel sich unwohl fühlt ist im deutlich anzusehen. Oh nein, Grace darf nicht traurig sein... aus welchen Grund auch immer.
Als ich ihren Arm so mit meinen grauen Augen betrachte, muss ich unwillkürlich an meine echte Mommy denken. Wenn sie meine Hand gedrückt hat, habe ich immer sofort gewusst, dass ich nicht alleine bin. Ob das mein Engel jetzt auch braucht? Eine Hand, die sie zärtlich drückt? Die ihr zeigt, dass sie nicht alleine ist?
Meine Augen wandern zu ihren schmalen Fingern. An einem kann ich einen Ring entdecken. Er ist gold und glatt und sieht sehr teuer aus.
Ganz vorsichtig strecke ich meine Hand aus.
Bald habe ich die beige Weste des Engels erreicht.
Ich schaffe es jedoch nicht ihre Hand zu drücken. Meine Finger krallen sich lediglich in den weichen Stoff ihres Kleidungsstücks.
Grace blickt auf und sieht mich an.
In ihren Augen kann ich etwas aufleuchten sehen, jedoch habe ich einfach keinen Namen dafür.
Ist es Freude, Liebe....?
Oh, hoffentlich weiß mein Engel, dass er nicht allein ist.
Wie gerne ich ihm das doch sagen möchte, aber ich habe einfach keine Worte.
Meine neue Mommy schenkt mir ein freundliches Lächeln.
Um mein Herz wird es ganz mollig warm, während sich meine Finger noch immer in den weichen Stoff der Weste krallen.
Grace lächelt noch immer.
Meine Finger lockern sich und ich lege meine Hand auf ihren Arm.
Das einzige Gefühl das ich verspüre: Wärme.
Der einzige Gedanke, den ich denke: Mein Schutzengel, du bist nicht allein!

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