Kleine Engel gibt es nicht

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Hallo ihr Lieben,


mit diesem Kapitel schicke ich euch in eine etwas längere Wartezeit.
Christian Grey ist in dieser kleinen Erinnerung 4 Jahre alt und wie immer wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen.


Grüßle Ina
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„Carrick, du hättest es sehen sollen", höre ich den Engel schniefen, „es war so unaufgeräumt ... so verwahrlost ... so schmutzig, einfach schrecklich..."
Graces Stimme bricht ab, kurz darauf folgt ein Schluchzer.
‚Nein, nicht weinen!'
„Sch... sch", vernehme ich da die Stimme des netten Mannes. Der Engel hat mir gesagt, er sei jetzt mein neuer Daddy.
„Es ist alles gut Liebling", wieder die beruhigende tiefe Stimme.
Abermals ein Schluchzer des Engels.
Vorsichtig, ganz vorsichtig linse ich um die Ecke.
Die Tür zum Schlafzimmer von den beiden steht offen. Schummriges Licht fällt aus dem Zimmer auf den Gang mit dem weinroten Teppich.
Ich kann den traurigen Engel und den netten Mann erblicken. Eng umschlungen stehen sie da – hinter ihnen kann ich ein großes Bett mit weißer Bettwäsche entdecken – während der nette Mann Grace leicht und behutsam über den Rücken streicht.
Augenblicklich muss ich an meine alte Mommy denken. Sie hat das auch manchmal bei mir gemacht... zwar nur sehr selten, aber sie hat es getan... und das hat sich wirklich sehr gut angefühlt... und Mommy hat mir damit immer gezeigt, dass ich nicht alleine bin. Das sie mir hilft, egal, was da auf mich zukommt. Ich habe mich dann immer weniger alleine gefühlt.
„Sch... sch", erneut die tiefe, melodische Stimme des Mannes, „ist ja gut... es ist alles gut, Grace."
Wieder ein Schluchzer des Engels.
Ich will nicht, dass Grace traurig ist. Meine neue Mommy darf das einfach nicht sein.
Wenn ich es schon nicht geschafft habe meine echte Mommy zu beschützen, muss ich zumindest schauen, dass es meiner neuen Mommy gut geht.
„Was wolltest du überhaupt in Detroit, Schatz?", der nette Mann, von dem ich leider den Namen vergessen habe, erlangt meine Aufmerksamkeit.
„Ich wollte...", beginnt der Engel, jedoch bricht er wieder in Tränen aus.
„Sch... sch", Grace wird von ihrem Gegenüber beruhigt, „ist okay. Alles ist gut."
Der nette Mann nimmt sie enger in den Arm, während der Engel abermals salzige Tränen vergießt.
„Ich wollte", setzt sie dann erneut an, „ich meine, ich habe Christian seine Kuscheldecke geholt. Der Junge braucht einfach etwas, das ihm vertraut vorkommt. Hier ist doch alles so neu für ihn... so fremd... so..."
Der Engel bricht ab und es kommen abermals neue Tränen. Erneut Schluchzer aus ihrer Kehle.
In mir zieht sich alles zusammen.
Oh wie gerne ich dem netten Engel doch sagen möchte, dass, wenn er da ist... alles gut ist.
„Warum hast du mir nichts davon erzählt?", die fragende tiefe Stimme des Mannes.
„Ich konnte nicht", erwidert Grace schluchzend, „ich konnte einfach nicht, Carrick."
„Ist okay", höre ich ihn sagen, ehe ich wieder ein Schluchzen von dem Engel vernehme.
‚Nicht traurig sein! Bitte nicht traurig sein.... wegen mir.'


Ein leises Geräusch hinter mir lässt mich aufhorchen.
Schritte kommen näher.
Erschrocken drehe ich mich um und blicke direkt in seine babyblauen Augen.
Lelliot!
In meinen Gedanken suche ich bereits nach den richtigen Worten, die ich sagen kann, wenn er mich anspricht. Jedoch sagt der Junge mit dem strohblonden Haar nichts, sondern schaut mich einfach nur an.
Kann er nicht aufhören mich so anzustarren?
Er sieht mich an als wäre ich ein Eindringling. Ein böser Junge, ein Monster, das sich in seine heile kleine Familie eingeschlichen hat. Oder geht meine Fantasie mit mir durch und ich bilde mir das nur ein?
Wortlos geht Lelliot an mir vorbei, auf den netten Mann und den Engel zu.
Ich bleibe zurück, bewege mich keinen Zentimeter und bleibe einfach nur stehen und blicke ihm nach.
Als Lelliot durch den Türrahmen in das Zimmer geht, schauen die beiden auf. Grace wischt sich schnell mit dem Ärmel ihres schneeweißen Bademantels die nassen Tränen weg. Ich wende mich ab und blicke in die Dunkelheit. Will meine neue traurige Mommy einfach nicht sehen.
„Es ist alles okay, Elliot", höre ich sie sanft sagen, „Du musst dir keine Sorgen machen."
„Ist es wegen Christian?", fragt Lelliot. Als er meinen Namen ausspricht zucke ich zusammen. Beinahe hätte ich mich am Bücherregal verletzt.
„Bist du wegen ihm traurig, Mommy?", bohrt er weiter, seine Stimme ist leiser geworden.
In mir zieht sich alles zusammen.
Wegen mir. Wegen mir. Wegen mir, wegen mir... wegen MIR ist der Engel so traurig. Wegen mir. Nur wegen mir.
Augenblicklich fühle ich mich schlecht.
„Nein", höre ich den Engel sagen, und sofort werde ich hellhörig und passe ganz genau auf. Spitze meine Ohren damit ich auch ja nichts verpasse.
„Elliot", vernehme ich Graces sanfte Stimme, „es ist nicht wegen Christian.... es ist nur..."
Meine neue Mommy scheint nach den richtigen Worten zu suchen, während sich in mir Erleichterung breit macht. Es ist nicht wegen mir! Nicht wegen mir! Ich bin nicht dran schuld, dass es meiner neuen Mommy schlecht geht. Ich nicht!
Der Engel sagt noch immer nichts. Scheint noch immer nach den richtigen Worten zu suchen, um es Lelliot zu erklären. Manchmal scheint es Grace wohl auch so zu ergehen wie mir.
Neugierig drehe ich mich um und luge vorsichtig um die Ecke. Noch immer ist das Zimmer in schummriges Licht getaucht. Aber anders als vorher sitzt der Engel jetzt auf dem Bett.
„Komm her, Großer", die tiefe Stimme des netten Mannes, „Grace ist müde. Sie braucht jetzt ihren Schlaf. Soll ich dich ins Bett bringen?"
„Aber, was ist mit Mommy?", höre ich Lelliot fragen.
„Elliot", mahnt der Mann und auf einmal ist seine Stimme nicht mehr so freundlich, „Komm mit, ich bringe dich ins Bett."
„Kann ich nicht hier bei euch schlafen?", er schaut zu dem netten Mann, der daraufhin zu dem Engel blickt. Meine neue Mommy nickt leicht.
„Na gut", der nette Mann, „bist du bettfertig, Großer?"
„Umgezogen ja", erklärt Lelliot freudig und grinst, „aber Zähne geputzt nein."
Der nette Mann lacht freundlich.
„Na komm, ab ins Badezimmer mit dir."
Damit hebt er den blonden Jungen hoch und verschwindet aus meinem Blickfeld.
„Ich will aber meine Zahnbürste", höre ich Lelliot quengelnd sagen. Was der für Sonderwünsche hat.
Als ich mit meiner echten Mommy in dem kleinen Haus gewohnt habe, wäre ich froh gewesen überhaupt so was wie eine Zahnbürste zu haben.
„Gut", die tiefe amüsierte Stimme des netten Mannes, „dann gehen wir in dein Bad."
„Yes", Lelliot ist sichtlich glücklich.
Der Engel schwingt die Beine aufs Bett und legt sich in die weißen Federn.
Ob ich mich zu ihm kuscheln darf? Unter der Decke ist es bestimmt mollig warm. Viel wärmer als in meinem Zimmer... wo ich doch so alleine bin.
Schritte lassen mich aufhorchen. Sie kommen näher, dann erblicke ich Lelliot.
Er kommt aus dem Zimmer. Schnell verstecke ich mich in der sicheren Dunkelheit.
Der blondhaarige Junge geht an mir vorbei... ohne auch nur von mir Notiz zu nehmen.
Vermutlich hat er mich nicht bemerkt.
Seine Schritte verlieren sich in der Dunkelheit. Dann abermals Schritte, jetzt geht der nette Mann bei mir vorbei. Auch er scheint mich nicht zu bemerken.
Als die Luft rein ist, mache ich einige Schritte, dann spähe ich wieder vorsichtig um die Ecke.
Meine neue Mommy liegt in den weißen, weichen Federn.
Leise, ganz leise schleiche ich mich näher an sie heran. Immer näher, näher und näher.. bis ich schließlich vor der Tür stehe. Der Engel hat mich noch nicht bemerkt.
Langsam trete ich aus der Dunkelheit hervor und betrete leise das Zimmer.
Meine neue Mommy weiß noch immer nicht, dass ich da bin, da sie mit dem Rücken zu mir liegt. Ich mache noch einen Schritt, jedoch knarzt jetzt eine Holzdiele.
Der Engel dreht sich um.
Bemerkt mich.
Er schenkt mir ein Lächeln, jedoch kann ich die Trauer dahinter entdecken.
„Magst du dich zu Mommy kuscheln, mein Kleiner?", fragt sie. Die Stimme des Engels ist ganz leise, aber ich.. ich höre sie.
Nickend gehe ich auf sie zu.
Vor ihr angekommen, rückt meine neue Mommy etwas beiseite um mir Platz zu machen. Einladend hebt sie die Decke an, sodass ich darunter schlüpfen kann. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Eilig hieve ich mich ins große Bett. Der Engel hilft mir nicht, weiß er doch ganz genau, dass ich nicht berührt werden will und es auch alleine schaffe. Auf dem Bett bleibe ich sitzen und schaue meine neue Mommy an. Sie schenkt mir ihr warmes Lächeln und streicht mir die Haare aus dem Gesicht.
„Na komm her."
Ich kuschle mich in die weißen weichen Federn und schmuse mich an ihre Seite.
Der Engel sieht mich an und lacht leise. Es ist ein kleines, fröhliches Lachen. Meine echte Mommy hat so auch mal gelacht, wenn auch nur sehr selten, aber sie hat es getan... meine echte Mommy.
Ich drehe mich um und kuschle mich noch enger an Grace.
Sie ist ganz warm und weich.
Meine echte Mommy war das auch immer, bis sie kalt wurde und an einen anderen Ort gegangen ist.
„Nicht anfassen, oder?", höre ich den Engel wispern.
Ich nicke müde.
Sanft fahren ihre Finger durch mein Haar. Das ist gut.
Meine neue Mommy lächelt.
Ich bin so unglaublich müde... und der Engel ist wieder glücklich.
Zum Glück. Meine neue Mommy darf doch nicht traurig sein... und wegen mir schon gar nicht.
Sie ist glücklich, weil ich hier bei ihr bin.
Das es mich gibt ist gut.
Und das erste Mal schließe ich glücklich in diesem großen Haus die Augen.
„Mein kleiner Engel", murmelt Grace leise an mein Ohr, „Ich habe dich so unglaublich lieb."
Ich muss gähnen, will aber gleichzeitig den Kopf schütteln.
Bin doch kein Engel... auch wenn meine neue Mommy das glaubt.
Den Engel sind gute Menschen.
Engel sind nette Menschen.
Und ich, ich bin böse, denn sonst wäre meine echte Mommy noch hier bei mir... und nicht wo anders.
Ja, Engel sind nette und vor allem weise Menschen... denn kleine Engel gibt es nicht.
Denn wie kann ein kleines Kind denn weise sein?
Wie kann ICH das sein?

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