Gleich

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Meine fleißigen Leseratten,

in dieser kleinen Erinnerung ist Grey 3 Jahre alt. Auch wenn es wieder etwas düsterer wird, wünsche ich euch ganz viel Spaß beim Lesen. Wie immer bin ich gespannt, was ihr davon haltet. Teilt doch eure Gedanken!

Grüßle Ina
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„Mommy kommt gleich", sagt sie leise.
Ihre Stimme ist abwesend.
Sie klingt komisch.
Mommy? Bist du krank?
„Mommy?", leise verlässt das Wort meine Lippen. Sie hört es und blickt irritiert auf.
„Sch ... sch", sagt sie in einer komischen Singsangstimme, „Mommy kommt ja gleich... und kümmert sich um dich."
Sie klingt schwach... erschöpft.
Mir knurrt der Magen. Ich habe Hunger. Will etwas zu essen.
„Mommy", wiederhole ich und sage ihr, dass ich Hunger habe... doch meine Mommy reagiert nicht. Sitzt einfach nur da... hier auf der Couch im größten Raum des Hauses und blickt mich an.
„Hunger", wiederhole ich nochmals.
Meine Stimme ist lauter geworden.
Mommy zuckt zusammen.
„Gleich", meint sie dann. Ihre Stimme klingt noch immer so komisch. „Gleich Christian."
‚Ich will nicht gleich! Ich habe jetzt Hunger. Nicht in einer Stunde oder einem Tag! Mommy gib mir was zu essen verdammt!'
Verdammt sagt der Mann immer, wenn er wütend ist. Ich habe mir das Wort gemerkt. Ich bin wütend, deshalb benutze ich es, auch wenn ich das nur in meinen Gedanken tu.
‚Ich habe Hunger und zwar jetzt! Verstehst du? Mommy!'
Traurig blicke ich meine Mommy an.
„Gleich." Abermals ihre abwesende leise Stimme.
Sie ist komisch.
Macht mir Angst.
Gleich hat Mommy gesagt.
Also gut.
Geduldig warte ich.
Mein Magen verkrampft sich. Ich bin so hungrig.
Aber Mommy hat gleich gesagt, also warte ich... warte geduldig, bis ich etwas zu essen bekomme.
Meine Mommy lehnt sich zurück. Ihr Gesichtsausdruck wirkt komisch... geisterhaft. Als wäre sie wo anders... an einem anderen Ort... in einer unentdeckten, fremden Welt.
In letzter Zeit ist sie oft so... meine Mommy. Ich glaube, sie kauft zu viele von den rechteckigen Schachteln. Oder schluckt sie zu viele weiße kleine Tabletten? Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich weiß es nicht! Aber was ich ganz sicher weiß ist, dass ich einen Bärenhunger habe.
Mommy! Hunger!
Mein Magen schmerzt noch immer.
Es tut so weh.
Mommy sitzt immer noch da.
Worauf sie wohl wartet?
Ich seufze, habe solchen Hunger.
Ich will heute nicht hungrig schlafen gehen. Mommy!
Ich bin schon viel zu oft hungrig zu Bett gegangen.
Langsam gehe ich auf meine Mommy zu.
Ihre Augen sind ausdruckslos. Ihre Mine kann ich nicht deuten. Sie atmet ruhig. Ihre braunen Haare sind zerzaust.
Plötzlich trete ich auf etwas Spitzes.
Aua!
Schnell mache ich einen Schritt beiseite.
Mein Fuß schmerzt.
Automatisch blicke ich zu Boden.
Bemerke Blut... mein Blut.
Sofort wird mir schlecht. ‚Mommy! Hilf mir! Bitte Mommy!'
„Mommy", bringe ich zustande. Meine Stimme zittert.
Mommy reagiert nicht.
Meine grauen Augen flitzen weiter suchend über den Fußboden.
Ich erblicke einige rechteckige Schachteln, es sind die, die meine Mommy so dringend braucht. Weiters erspähe ich noch Socken, eine Decke... und dann ist da noch etwas langes, Weißes. An einem Ende hat es einen dünnen, silbrigen Stab.
Komisch.
Was das wohl ist?
Mutig nähere ich mich dem länglichen Ding am Boden.
Vorsichtig, ganz vorsichtig, greife ich danach. Hebe es hoch... betrachte das Objekt neugierig.
Ich glaube, es gehört Mommy. Wenn ich mich nicht irre, habe ich schon mal so ein Ding in ihrer Hand gesehen.
Es ist sehr wichtig für sie.
Hat mir Mommy einmal gesagt. Dadurch fühlt sie sich besser ... hat sie mir versichert. Mit diesem Ding nimmt sie ihre Vitamine. Ja, das hat mir meine Mommy erklärt.
Vitamine sind gesund.
Ob ich das auch brauche, wenn ich erwachsen bin... so wie jetzt meine Mommy?
Braucht denn jeder Mensch Vitamine?
Ich weiß es nicht, aber ich kann mir ja das Ding mal näher anschauen. Sicher ist sicher.
Mutig strecke ich meine kleine Hand aus und berühre mit dem Finger den dünnen Silberstab.
Au!
Reflexartig lasse ich los.
Meine schmalen Finger lösen sich von dem länglichen Ding und das Objekt fällt geräuschvoll zu Boden.
Ich schrecke zusammen.
Auf meinem Finger, mit dem ich das silberne, dünne Etwas berührt habe, ist ein roter Punkt.
Ohne darüber nachzudenken stecke ich mir meinen Zeigefinger in den Mund.
Es schmeckt nach Rost, säuerlich und etwas salzig.
Ich blicke zu meiner Mommy.
Noch immer sitzt sie regungslos auf der Couch.
„Mommy?", frage ich.
Meine Stimme ist leise... ganz leise. Mein Fuß schmerzt noch immer und zu allem Überfluss beginnt jetzt auch noch mein Finger wehzutun.
Es schmerzt.
Höllisch.
Mir kommen die Tränen.
„Mommy", heule ich.
Sie reagiert nicht.
‚Ich hab Hunger ... mir tut alles weh! Hilf mir doch! Mommy!'
Ich weine.
Hemmungslos.
„Sch ... sch", höre ich Mommys Singsangstimme. Noch immer klingt sie komisch.
„Alles ist okay, mein Kleiner", murmelt sie, „Alles ist gut. Du bekommst ja gleich dein Essen."
Noch immer weine ich.
Die salzigen Tränen wollen einfach nicht weichen.
Im Gegenteil, sie werden immer mehr.
Ich fühle mich so schwach und verletzlich.
Mommy hat gleich gesagt.
Aber ich weiß einfach nicht, wann gleich ist.
Mommy, Mommy, hilf mir doch...

MEMORIES - Fast vergessene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt