Vertraut

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In dieser Erinnerung ist Christian 4 Jahre alt. Ja, noch immer, ich weiß. :) Ob ich wohl in der Zeit hängen geblieben bin?
Na ja, wie auch immer... ich wünsche euch auf jeden Fall viel Spaß beim Lesen!


Danke für euer Intersse! :)


Grüßle!
Eure Ina
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„Okay", meine neue Mommy spricht eher zu sich selbst als zu mir, dann strafft sie die Schultern und nimmt das erste Ding in die Hand.
Das kenne ich.
Es ist rot und saftig.
Ap-fel.
Ja, ein Apfel.
Ich nicke. Sage mit dem Kopf ja.
Grace lächelt, legt das Ding wieder auf seinen alten Platz zurück und nimmt ein Neues in die Hand.
Es ist grün und länglich.
Und es ist mir unbekannt.
Zaghaft schüttle ich den Kopf.
Meine neue Mommy legt es beiseite und greift sogleich nach dem nächsten Ding, das in einer Schlange von anderen liegt.
Jetzt hält sie einen Becher in den Händen.
Er ist weiß mit einer blauen Aufschrift drauf.
Meine Zahnräder arbeiten auf Hochtouren. Ich überlege und überlege.
Die Form des Bechers kommt mir bekannt vor. Ob sich im Inneren weiße Flüssigkeit befindet?
„Wollen wir den Becher einmal aufmachen?"
Graces Stimme ist noch immer sanft und warm. Keine Spur von Ungeduld kann ich in ihr ausmachen.
Zögerlich nicke ich. Schön mit dem Kopf rauf und runter.
Der Engel lächelt, ehe er sich daran macht die obere Schicht des Bechers zu entfernen. Grace zieht ein rundes – ich weiß auch nicht genau wie ich das nennen soll – vom Becher, ehe sie mir erneut den Becher hinhält. Weiße cremige Flüssigkeit kann ich darin sehen.
Joghurt.
Bingo.
„Na, was ist damit?", fragt Grace sanft und lächelt warm, „kennst du das?"
Darauf weiß ich sofort eine Antwort.
Ja.
Eifrig nicke ich.
„Sehr schön", der Engel, jetzt meine neue Mommy, strahlt über das ganze Gesicht.
„Wollen wir uns weitere Dinge ansehen oder willst du lieber das hier", sie hält demonstrativ den Becher etwas hoch, um das Wort zu untermalen, „probieren?"
Grace sieht mich an und ich kann die Erwartung in ihren Augen aufblitzen sehen.
Ich zeige auf die anderen Dinge, da ich gespannt bin was sie mir noch so alles zeigen möchte.
Die Frau in der hellen Weste nickt freudig und schenkt mir ihr warmes Lächeln.
In mir breitet sich ein Gefühl aus, das ich nicht ganz einordnen kann. Aber es fühlt sich gut an.
Als nächstes zeigt mir mein Engel ein gelbes, gebogenes Ding und ich weiß beim besten Willen nicht, was das ist geschweige denn, ob man es so wie es ist, sofort essen kann oder ob man es auch zuerst öffnen muss, so wie den Becher mit der weißen Flüssigkeit.
Auch das nächste Stück, das Grace mir zeigt ist mir unbekannt.
Es ist rund, so wie ein Ball und orange ist es auch. Ich darf es anfassen. Es fühlt sich rau und hart an, aber wenn ich draufdrücke spüre ich dass sich darunter etwas Weiches befindet.
„Diese Frucht nennt man Orange", erklärt mir Grace mit ihrer schönen sanften Stimme, während ich das runde Ding in meinen Händen neugierig betrachte wie ein Kind, wenn es zum erste Mal von seinen Eltern erfährt, dass die Erde auf der wir alle leben, rund ist und man, wenn man sie umrunden würde, nicht von ihr in das weite grenzenlose Weltall hineinfällt. Aber das mit der Erde und dem Nicht-Hinunterfallen habe ich schon lange begriffen. Denn das hat meine echte Mommy mir relativ früh beigebracht.
Ich erinnere mich noch genau daran. Wir haben gemeinsam auf der Couch in unserem zu Hause gesessen und Mommy hatte eine kleine Weltkugel auf ihrem Schoß, die sich sogar um ihre eigene Achse drehen konnte. Schlagartig sehe ich ihr wunderschönes Lächeln vor mir und höre ihr fröhliches Lachen. Mommy war manchmal so glücklich! Es war zwar nur sehr selten, aber Mommy war das... glücklich... manchmal.
„Hier bin ich geboren und aufgewachsen", hatte mir Mommy mal erklärt, als sie auf eine Stelle auf der runden Erde gezeigt hatte. Ich hatte es mir damals ganz genau angesehen und hatte mir fest vorgenommen, mir die Stelle auf dem Globus auf ewig zu merken. Das grüne Landstück, umringt von viel Wasser. Ob es der Atlantische Ozean gewesen war hatte ich vergessen. Wie konnte ich mir das nur nicht gemerkt haben? Mommy hat es mir doch erzählt. So viele Male. Und nun habe ich vergessen, woher sie kommt... oder kam. Immerhin ist sie jetzt wo anders.
Das sagt zumindest mein Engel.
Und eine fremde Frau hat das auch mal zu mir gesagt.
Dass meine echte Mommy jetzt wo anders ist, meine ich... naja, deswegen habe ich ja jetzt auch meine Neue... weil meine alte, echte Mommy nicht mehr da ist.
Meine echte Mommy, die ich so sehr lieb habe, ist weg.
Verschwunden... einfach so.
In mir zieht sich schlagartig alles zusammen.
"Echte Mommy" scheint ein Stichwort für den Schmerz zu sein.
„Christian?", die Stimme Graces reißt mich aus meinen Gedanken und sofort blicke ich in ihre Richtung. Was hat sie gesagt? Habe ich was verpasst? Oh bitte, bitte sag nochmal.... Ich will doch aufpassen... will doch ein guter Junge sein.
Mir ist es so unglaublich wichtig, dass meine neue Mommy das weiß. Das sie weiß, dass ich ein guter Junge bin... denn für IHN war ich das nie. Niemals. Für IHN war ich immer ein schlechter... ein ganz böser Junge. Jemand, der es verdient hat, dass seine Mommy jetzt wo anders war.
Wo wohl dieses WO ANDERS ist?
Hoffentlich ist es schön da... da wo meine echte Mommy jetzt ist.
„Alles in Ordnung, Spatz?"
Spatz? Das habe ich ja noch nie gehört...
Mit großen Augen blicke ich Grace an, die mich daraufhin sanft anlächelt und die O-ange an sich nimmt, die ich bis jetzt in meinen kleinen Händen gehalten habe.
Besorgt sieht meine neue Mommy mich an.
So hat meine Echte mich auch manchmal angesehen.
Erneut zieht sich in mir alles zusammen und der Schmerz in meinem Körper meldet sich zurück.
Wieso tut das nur so weh?
Wieso bin ich hier?
Wieso nicht bei meiner Mommy.... und zwar bei meiner Echten?
Dass der schrecklich Mann nicht mehr da ist, ist unglaublich befreiend, aber ich wünschte nur, dass meine Mommy das auch noch miterleben könnte.
Warum ist sie weg?
Warum bin ICH allein?
Auch wenn mein Engel bei mir ist... in mir ist Leere.
Nichts als Leere... Leere und Schmerz.
Grace sieht mich an, ich schaue schüchtern zu ihr nach oben.
Als ich so vor ihr stehe, habe ich das Gefühl, dass mir mein Engel direkt in mein Innerstes sieht.
Hat sie die Trauer in mir entdeckt, die tief in mir schlummert?
Sieht mein Engel den Schmerz?
Die Verlassenheit?
Meine neue Mommy lässt weitere Dinge auf der Küchenzeile, lächelt mich sanft an und gibt mir dann den Becher mit der weißen Flüssigkeit und den Apfel von vorhin in die Hände, ehe sie mir andeutet, dass ich ihr folgen soll.
Ich tue dies... wenn auch zögerlich... aber irgendwie spüre ich, dass ich dem Engel vertrauen kann.
Meine kleinen Beinchen tragen mich in einen großen Raum. Ich kann eine Couch, einen Fernseher und eine Stehlampe entdecken. Letzteres sieht ziemlich modern und teuer aus. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine echte Mommy sich so eine Lampe hätte niemals leisten können.
Grace geht zum Sofa, setzt sich und klopft neben sich.
Sofort weiß ich, was sie will.
Ich soll mich setzten... neben sie.
Mit großen Augen schaue ich meinen Engel an, der mir ein einladendes Lächeln schenkt, ehe ich all meinen Mut zusammen nehme und auf die Frau zugehe. Vor ihr angekommen, lege ich den Apfel und das Joghurt auf den Boden, ehe ich mich auf die Couch hochhieve.
Als ich schließlich sitze bin ich froh, aber noch immer wundere ich mich, warum ich mich auf das Sofa gesetzt habe. Was der Engel wohl vor hat?
Dass es nichts Schlechtes ist, ist mir klar. Trotzdem schlägt mein Herz etwas schneller als sonst und ein Funken von Nervosität bleibt dennoch in mir.
Grace lächelt sanft, ehe sie sich bückt und Apfel und Joghurt vom Boden aufhebt.
Sie stellt es auf dem Glastisch vor der Couch auf der wir sitzen ab, dann greift mein Engel neben sich und legt mir die schwarzweise kuschlige Decke um.
Mit ihren Bewegungen ist sie ganz langsam und sanft... so als hätte sie Angst ich könnte zerbrechen, wenn sie zu schnell etwas tut.
Meine schwarzweiße Schmusedecke ist so groß, dass ich beinahe darunter verschwinde... aber mir ist das egal, denn sie riecht so schön nach meiner Mommy. Ist so weich und vertraut.
So unendlich kuschlig.
Und so sitze ich auf der Couch fest eingekuschelt in meine Schmusedecke, den Blick auf den Apfel und das Joghurt vor mir auf dem Glastisch gerichtet.
Grace langt nach vorn und nimmt die Utensilien an sich, ehe sie sie mir, wenige Sekunden später, in die Hand drückt.
Da ich Hunger habe, lege ich den Apfel beiseite.
Lustig rollt er ein wenig auf dem Sofa hin und her.
Klar, er ist rund... stehen bleiben kann er nur schlecht.
Ich beuge mich nach vorn und schlürfe gierig an dem Becher.
Kaum habe ich genug weiße Flüssigkeit im Mund, schlucke ich hungrig.
Hmh... wie lecker.
„Schmeckt dir das Naturjoghurt?"
Na-ur-jogurt.
Okay, das hört sich wirklich schwierig an.
Aber ich wiederhole das Wort trotzdem in Gedanken.
MUSS es mir doch merken!
Auch wenn ich Graces letztes Wort nicht so ganz verstanden habe - mein Engel muss bestimmt den Becher in meiner Hand mit der köstlichen weißen Flüssigkeit meinen - nicke ich.
Mein Engel lächelt.
Und auf einmal ist neben der schrecklichen Leere und dem höllischen Schmerz noch etwas anderes in mir. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, aber ich glaube es ist Vertrautheit.
Und ich fühle mich irgendwo wohl und geborgen.
Und das ist gut!
So viel besser als der Schmerz!
So viel besser als Leere.
Einfach Vertrautheit!
Und Vertrautheit ist gut!

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