Prolog - damals

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Der Tod ist schon etwas Seltsames. Gleichsam unumgänglich und für jeden einzelnen, der auf dieser Welt wandelt unausweichlich. Unumkehrbar. Immerwährend. Manchmal kommt er schleichend, in allen möglichen Formen; ob im Alter während eines tiefen Schlafs oder als Krankheit, die langsam jede Zelle dahinrafft. Und manchmal kommt er unerwartet. Der schwarze Sensenmann braucht keine Erlaubnis in ein Leben zu treten. Bei Sonnenaufgang scheint es nur ein weiterer, normaler und langweiliger Tag zu werden, bei Sonnenuntergang scheint nichts mehr so wie es einmal war.

Eine vorbei streunende Gestalt riss das Mädchen aus ihrer Trance, schaffte es aber nicht sie vollends in die Realität zurückzuholen. Ezra hob den Kopf und starrte der gedrungenen Frau hinterher, die im Stechschritt davonmarschierte, gerade so schnell, dass sie nicht rannte, gleichzeitig jedoch weit von ihrer normalen Geschwindigkeit entfernt.

Normalerweise hätte Ezra sie gemustert, überlegt, ob und wenn ja woher sie sie womöglich kannte, und ob sie durch ihren fehlenden Gruß einen schlechten Eindruck vermittelt hatte. Doch obwohl der glasige Blick des Mädchens immer noch auf den breiten Schultern der Frau lagen, waren ihre Gedanken bereits wieder an einem ganz anderen Ort. Immer am selben Ort. Dem selben Zeitpunkt.

Ezra schluckte hart unterdrückte dem Impuls zu würgen. Sie konnte immer noch das Blut riechen. Unbewusst ballte sie ihre Hände zu Fäusten, als würde es ihre Finger reinwaschen. Als könne sie den metallenen Geruch von Blut der von ihnen auszugehen schien damit unterbinden.

Der Tod hatte wieder einen Platz in ihrem Leben gefunden. Erneut war er gekommen, ohne Vorwarnung, mit einem Knall, der ihr ganzes Leben erschüttert und ihr tiefstes Fundament geraubt hatte. Dabei konnte sie immer noch seine Hand an ihrem Unterarm spüren, die Stellen wo seine Finger sich in ihre Haut gekrallt hatten. Seine Augen, die die ihren gefunden hatten ...

„Ezra?"

Erneut schoss ihr Blick nach oben. Ein kleiner Mann stand vor ihr.

„Fräulein Vertere, Ihr Vater erwartet Sie jetzt."

Den Blick auf die tief sitzenden Augen des Mannes gerichtet versuchte sie zu schlucken, doch der Kloß in ihrem Hals hinderte sie daran. Ein kleiner Teil ihres Gehirns, der, der auch die vorbeigehende Frau bemerkt hatte, erinnerte sich daran, dass sie auf etwas gewartet hatte. Ihren Vater. Ihr Vater hatte sie zu sich gerufen.

Unfähig etwas zu sagen nickte sie, dann trat sie an ihm vorbei durch die große, hölzerne Tür in eines der Arbeitszimmer ihres Vaters. Beide Bewegungen fühlten sich steif an.

Die dunklen Augen des nur allzu bekannten Mannes erwarteten sie keine zwei Meter entfernt vor dem großen Eichentisch, der einen Großteil des Raumes einnahm. Ein letztes Mal drehte sie sich zu dem Mann um, der gerade die Tür hinter ihr schloss und nickte einmal kurz dankbar. Eine Entscheidung, die sie sofort bereute, denn der Blick mit dem er sie bedachte sagte mehr als allen im Raum lieb war. Bedacht. Geschockt. Beunruhigt. Er hatte Angst. Angst vor ihr. Und davor was sie als nächstes tun würde.

Die Neuigkeit hatte sich also bereits verbreitet.

Erneut ballten sich ihre Hände zu Fäusten, so fest, dass sie ihre Fingernägel in ihrer Handfläche spürte. Sie durfte nicht wieder daran denken. Nicht jetzt. Nie wieder.

Doch alles kehrte zurück. All die Gerüche, die Angst und die Verzweiflung kehrten wieder, als sie erneut in die Augen ihres Vaters blickte.

Für einige Sekunden starrten sie einander an, braun traf braun, irgendwo in der drückenden Stille die zwischen ihnen lag. Ezras Kiefer verspannte sich, während ihre Gedanken wieder zu wandern begannen. Dieses Mal jedoch kehrte mehr wieder als das Blut, der Tod und die Taubheit, die sie die letzten Stunden lang betäubt hatte.

Die Augen mit der Person, die sie ihr ganzes Leben lang zurechtgewiesen hatte verschränkt wurde ihr etwas bewusst. Sie hatte alles verloren. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und alles verloren. Und das bedeutete, dass sie nichts zu verlieren hatte. Zumindest nichts, was nicht ohnehin schon in Scherben zu ihren Füßen liegen würde.

Als ihr Vater sich endlich bewegte und seine Stimme erhob war sie überraschend leise. Ruhiger, als sie erwartet hatte. „Was hast du getan?"

Es dauerte einige Sekunden, bis die Bedeutung der Worte in Ezras Kopf vorgedrungen waren. Sie schluckte erneut gegen den Kloß in ihrem Hals an und machte sich dazu bereit ihm eine Antwort zu geben. Doch noch bevor sie ihren Mund öffnete bemerkte sie eine neue Emotion, die sich in das dumpfe Gefühlsgemisch in ihrem Kopf gesellte. Wut. Blanke, feurige Wut, die ihr verdorrtes Herz zum Pochen brachte und Säure in ihre Adern pumpte. Ja, sie hatte alles verloren. Sie hatte nichts zu verlieren. Und das bedeutete, in eben diesem Moment konnte alles passieren.


Nächstes Update folgt am 15.08.2018 :)

Zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt