Kapitel 54 - Ezra

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Als sie sich wieder von der Mauer abstieß und ein steckender Schmerz durch ihre Seite fuhr wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Mann und dem erbarmlosen Stock, der sich stets nur Zentimeter neben ihr in den Untergrund gebohrt hatte.

Er hatte sie erkannt. Hatte er schon bei ihrer ersten Begegnung gewusst, wen er vor sich hatte? Und wenn ja, hatte er vielleicht nur versucht sie mit dem Wissen, dass sie ihre Mutter suchte anzulocken?

Frustriert trat sie mit einem Fuß gegen die nächste Hauswand, als sie erneut um eine Ecke bog, in ihrem Augenwinkel ein Schatten. Verwirrt wandte sie sich um, doch alles was sie erblickte war eine leere Straße.

Kopfschüttelnd drehte sie sich wieder weg und starrte beim Gehen auf das unebene Kopfsteinpflaster. Ihre Gedanken wanderten erneut zu dem Fremden, dem Magier, den sie gerade gehen lassen hatte. Solange, bis sie wieder etwas aus den Augenwinkeln sah und sich erneut umsah, dieses Mal blieb sie jedoch nicht stehen.

Nach einer Weile erkannte sie hinter sich eine zweite Person, die ein Stück hinter ihr gedrängt die Straße entlang ging. Mit einem Mal wurde ihre Kehle trocken. Der Gedanke an den Mann festigte sich. Was, wenn Joanna recht gehabt hatte? Was, wenn er sie wirklich töten wollte? Gründe gäbe es sicherlich genug ...

Ezra zwang sich einmal ruhig durchzuatmen. Es würde ihr nichts bringen, wenn sie in Panik verfallen würde. Möglichst unauffällig fixierte sie die nächste Straßenecke und bog dann ab, blieb aber einige Meter hinter der Ecke stehen. Wenn derjenige klug war, würde er sich zuerst umsehen, bevor er ihr entgegenkam.

Doch als die Gestalt sie erreichte blieb sie nicht stehen, sondern marschierte weiter, direkt in Ezras Arme und das Mädchen drückte die Person mit beiden Armen gegen die Wand. „Was willst du?", zischte sie leise und drückte mit ihren Ellenbogen so fest sie konnte gegen die Schulter ihres Gegenüber. Ein steckender Schmerz breitete sich augenblicklich von den schmerzenden Stellen über ihren ganzen Körper aus, sodass die Trägerin die Zähne zusammenkniff um ihren Griff nicht zu lockern.

Es dauerte einige Sekunden, doch dann erkannte Ezra die Gestalt als den Jungen, den sie in der Menge gesehen hatte, bevor sie in den Ring geklettert war. Seine rehbraunen Augen starren ihr weit aufgerissen entgegen und auf ihre Frage hin öffnete er nur mehrmals den Mund, schloss ihn aber gleich wieder, da er offenbar nicht fähig schien etwas zu sagen.

Obwohl sie es nicht wollte wurde der Druck, den ihr Arm auf die Brust des Jungen ausübte für einen Augenblick schwächer. „Was willst du?"

Die Hand des Jungen bewegte sich ein Stück nach oben und Ezra starrte nach unten. Verwirrt ließ sie ihn los und trat sie einige Schritte zurück, den Blick starr auf die Kleider des Jungen gerichtet, die sie zuvor im dunklen Keller nicht gesehen hatte. Sie kannte die Farben nur zu gut, denn sie war mit ihnen aufgewachsen. Seine Verterekleider waren zerschlissen und wirkten alt, doch sie würde sie überall wiedererkennen.

Er hatte sie also gefunden. Ihre Familie, ihr Vater wusste also wo sie war. Und sie hatte sich noch demonstrativ einem Kampf gestellt.

Sie schüttelte leicht den Kopf. Nein, dieser Junge hatte sie gefunden, noch wusste ihr Vater nichts davon. Hoffentlich. „Wie hast du mich gefunden?", änderte sie ihre Taktik und trat nochmals einen Schritt zurück, als hätte sie sich verbrannt.

Der Junge schien immer noch perplex. „Ich-", stotterte er und räusperte sich. „Mein Name ist Alexei, ich komme aus einem kleinen Dorf nahe –"

„Es interessiert mich nicht, woher du kommst", fauchte sie und der Junge zuckte zusammen. „Wie hast du mich gefunden?" Schwer atmend blickte sie den Anderen an, in der Hoffnung er würde hinter ihrer Aggressivität nicht die beklemmende Angst hören, die sich in ihr ausbreitete.

Die braunen Augen des Jungen musterten sie, doch statt zu antworten zog er an etwas das um seinen Hals hing und etwas Rundes, Goldenes kam zum Vorschein. Langsam, als wäre er darauf bedacht ja nichts zu beschädigen zog er das Band um seinen Kopf und streckte ihr den Gegenstand entgegen.

Für einen Moment starrte sie ihn an bevor sie die Taschenuhr langsam entgegennahm. Es überraschte sie, wie vertraut sich das Metall anfühlte, schon bevor sie erkannte, um was es sich handelte.

„Woher hast du das?", fragte sie weiter und starrte auf das eingeprägte Wappen der Prevoir.

Der Junge blieb still.

„Woher hast du das?", wiederholte sie und betonte dabei jedes einzelne Wort. Sie war sich ziemlich sicher, dass der Junge genau wusste wer sie war. Und es gefiel ihr gar nicht.

„Vor einiger Zeit bin ich zu den Vertere gekommen", begann er langsam und blickte sie dabei starr an, seine braunen Augen fixierten ihre. „Und noch am selben Abend bin ich –", er brach den Satz ab und verschluckte die letzten Worte, als wären sie zu schwer sie auch nur auszusprechen. „Uriah schickt mich."

Ezras Kiefer spannte sich an. „Darf ich raten?" Sie bemerkte, wie ihre Stimme vor Sarkasmus nur so triefte, doch es war ihr egal. „Er hat dir eine sehr wichtige Aufgabe erteilt. Eine Mission, die dir unermesslichen Ruhm bringen wird." Sie schüttelte den Kopf, doch als der Junge zu einer Antwort ansetzte ließ sie ihn nicht einmal ein Wort aussprechen. „Meine Antwort ist nein."

Sie wandte sich ab und wollte gerade gehen, als sie sich nochmals umwandte und ihn noch einen letzten Blick schenkte. Halb wollte sie fragen, ob in ihrer Familie etwas passiert war. Zwar versuchte sie sich durch andere Quellen auf dem Laufenden zu halten, doch was, wenn ohne das Wissen von anderen jemand zu Schaden gekommen war?

Seine Augenbrauen wanderten nach oben. „Deshalb bin ich nicht hier", stellte der Junge fest.

Ezras Herz hüpfte und für einen Moment war die Sorge um ihre Familie größer als der Groll und die Furcht die in ihr ruhten. „Weshalb dann?" Beinahe wäre die Trägerin zusammengezuckt, erschrocken davon wie unfreundlich und scharf die Worte aus ihrem Mund kamen.

Der Junge jedoch zeigte keine Reaktion. Seine Augen wanderten zu der Taschenuhr in ihrer Hand. „Er meinte, du könntest mir helfen." Wieder verstummte er, als hätte er plötzlich den Faden verloren.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Wie nett von ihm." Sie verstummte wieder, die Frage, die sie nicht gestellt hatte schien zwischen ihnen in der Luft zu hängen, nicht sichtbar, doch beinahe greifbar. Kannte sie ihn? Nein, sie war noch nie einem Alexei begegnet; zumindest nicht bewusst.

„Er meinte, dass wir womöglich das gemeinsame Ziel verfolgen", sprach der Junge weiter und starrte sie an, offenbar wollte er ihr mehr damit sagen, doch das Gegenteil war der Fall, denn Ezra verstand gar nichts mehr. Ein Funken von Ärger keimte in ihr auf, erlosch aber sofort wieder. Ungenau aber weltverändernd. Ja, so sprachen viele in Nivie, viele in ihrem Haus.

„Und welches Ziel soll das sein?"

Der Junge schluckte. „Du suchst nach deiner Mutter." Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage, trotzdem nickte das Mädchen langsam und atmete dann tief durch um still zu bleiben. Nein, er war Teil ihres Hauses. Wenn er von Uriah geschickt wurde musste sie freundlich sein, denn dann war es nur eine Frage der Zeit, bis er auch ihrem Vater unter die Augen treten würde. Am besten würde es wohl sein, wenn sie ihn einfach wieder zurückschickte. Und sich dann einen neuen Stein suchte unter dem sie sich verstecken konnte. Vielleicht eine andere Stadt, weg von den mehr werdenden Travail, weg von dem Fremden ...

„Ich auch."

Seine Worte rissen das Mädchen aus ihren Gedanken und sie zog verwirrt die Augenbrauen nach oben. „Du suchst nach meiner Mutter", wiederholte sie seine Worte, doch bei ihr schwang in jeder Silbe Missbilligung mit.

Doch wieder schien der Junge sich davon nicht beirren zu lassen. Er nickte.

Das Mädchen schnaubte. Er war verrückt. Oder irgendein Fanatiker, ein Freund ihres Vaters, vielleicht der Sohn eines Mannes, der ihrem Vater imponieren wollte.

„Und weshalb möchtest du sie finden?", fragte sie weiter und versuchte dabei vergeblich ihre Stimme freundlich zu halten. An diesem Abend war schon so viel passiert, dass sie sich nun am liebsten in ihr Zimmer setzten und ihren Gedanken freien Lauf lassen würde.

Doch dann sprach der Junge weiter und mit einem Mal hatte er ihre volle Aufmerksamkeit.

„Weil sie auch meine Mutter ist."


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