„Nein, nein, nein; nicht hier und sicher nicht heute!"
Instinktiv wich Alexei einige Schritte zurück und trat dabei unabsichtlich über die Türschwelle. Die nun beinahe schrille Stimme der kleinen Frau schien innerhalb der letzten Sekunden ins unermessliche angeschwollen zu sein.
„Nicht hier in meinem Haus. Ich habe genug von euch, komm morgen wieder."
Die Tür vor ihm landete mit einem Knall im Schloss und Alexei zuckte bei dem jähen Geräusch zusammen, bevor er dem glatten Holz entgegenblickte und langsam den Kopf schüttelte. „Keine Sorge", murrte er lustlos. „Ich werde nicht wiederkommen."
Er schenkte der Tür einen letzten bösen Blick, dann machte er sich wieder auf den Weg und starrte im Gehen auf die Taschenuhr, die er mittlerweile um den Hals trug.
Nachdem er von Uriah verabschiedet, um nicht zu sagen herausgeworfen wurde, hatte es einige Tage gebraucht, bis Alexei wieder zu sich gefunden hatte. Er war zu lange an andere ausgeliefert oder von ihnen abhängig gewesen und viel zu lange das getan, was sie ihm gesagt hatten, sodass er zuerst gar nicht wusste, was er tun sollte.
Der Blauäugige, Uriah, hatte ihn nur mit einem von ihm gegebenen Auftrag auf die Straße gesetzt und ihn allein losgeschickt, ohne ein Wort dazu, was sein nächstes Ziel sein sollte, oder wo er Hilfe bekommen konnte.
Doch er hatte ihm eine Richtung gegeben. Eine bloße, rote Nadel, die stetig in eine Richtung zeigte. Er hatte ihren Sinn erst nach einer langen Nacht und einem noch längeren Tag verstanden, in denen er sich hauptsächlich in engen Gassen der nächsten Stadt, die er erreicht hatte versteckte, denn schnell war ihm eines bewusst geworden. Auch wenn er dank Uriah aus der Stadt verschwinden hatte können, sie würden ihn nicht widerstandslos gehen lassen. Erst nachdem eine grimmig wirkende Soldatin nach einem Jungen suchte, dessen Beschreibung erschreckend auf ihn passte, wurde ihm bewusst, dass er es war, nachdem sich die scheinbar zahllosen Vertere umsahen.
Verzweifelt hatte er sich weiter in die Schatten gedrängt, immer weiter in die dunkle, dreckige Ecke, in der er schon den ganzen Tag gehaust hatte und hatte gebetet. Gebetet an auch immer wer ihm helfen mochte. Und die Taschenuhr hatte ihm geantwortet.
Dabei war es nicht so, als hätte er wirklich mit ihr gesprochen. Es schien eher, als würde sie ihm zeigen, wohin er gehen sollte. Also war der Junge aufgebrochen. Hinaus aus der Stadt, die er nicht kannte, immer weiter hinein ins Ungewisse.
Er hatte seine Kleider vor seinem Aufbruch nicht mehr wechseln können, so streifte er mit den dunklen Verterekleidern durch die Straßen und war froh dabei, denn unter den vielen anderen Vertere schien ihn erst niemand zu bemerken. Doch umso weiter er sich von Nivie wegbewegte desto mehr erntete er auch misstrauische Blicke und einige Menschen schienen ihm sogar aus dem Weg zu gehen.
Genauso wie die Frau in dem Gasthof, den er vorhin betreten wollte. Sie hatten ihm nicht erzählt, ob etwas vorgefallen war doch aus ihren Worten schloss er, dass sie nicht unbedingt gute Erfahrungen mit den Vertere gemacht hatte.
Die Sonne versank bereits wieder hinter dem rot glühenden Horizont und Alexei starrte auf die dunkel glühende Kugel. Als er das Dorf hinter sich gelassen hatte, sah er nochmals zurück, dann zog er erneut die Taschenuhr unter seinem Hemd hervor und warf einen Blick darauf. Wie erwartet wies sie ihm genau die Richtung, die er bereits eingeschlagen hatte. Der Zeiger wies ihm den Weg weiter weg von einer Heimat, hin zu den Bergen.
Sein Magen ließ ein durchschneidendes Knurren verlauten. Seine rechte Hand fuhr zu seinem Bauch und ballte sich dort zur Faust. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis er die nächste Ortschaft erreichen würde. Und dann, dann würde er irgendwann einen Pass finden müssen, der ihn durch die Berge brachte.
Bevor er die Taschenuhr wieder einsteckte beobachtete er für eine Weile den dünnen, blauen Zeiger, der viel kürzer war als der Rote, der vehement in eine andere Richtung zeigte. Beinahe kam es Alexei vor, als würde er einen anderen Weg für ihn beherbergen. Einen leichteren als den, den er wählte. Der, der ihn nach Hause führen würde.
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Zwischen Licht und Schatten
Viễn tưởngDie Welt ist gespalten zwischen vier Namen, vier Familien: Vertere, Travail, Prevoir und Pensee. Vier Familien, die das Land unter sich aufteilen und die Macht für sich beanspruchen. Weit davon entfernt wächst Alexei mit seiner Familie in einem kle...