Kapitel 10 - Amaria

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Der Weg zurück zu ihrem Heimatdorf schien sich endlos in die Länge zu ziehen. Ihr war bewusst, dass sie eine weite Strecke vor sich hatte, doch als sie einen ganzen Tag später endlich in die Nähe ihrer Heimat kam, schien es als seien bereits Jahre vergangen.

Sie wanderte, immer weiter den bereits von hohen Bäumen umgebenen Weg entlang, doch als sie erst die halbe Strecke zurückgelegt hatte, begannen bereits ihre Beine zu stechen und sie überlegte, ob sie eine Pause einlegen sollte. Jedoch entschied sie sich beim Gedanken an ihr Ziel anders, wenn sie erst einmal wieder zurück war konnte sie sich ausruhen so viel sie wollte.

So ging sie weiter und wählte, als sie an einem engeren Pfad entlang kam die schmalere Straße, den Weg durch den tieferen, dichteren Wald, den sie auch eingeschlagen hatte, als sie erstmals vor vier Jahren von ihrem Zuhause aufgebrochen war. Sie war erst dreizehn gewesen und es hatte ihr alle Überwindung gekostet, die sie aufbringen konnte. Das Mädchen erinnerte sich zu gut an die vielen Nächte in denen sie wach gelegen war, stets hin und hergerissen zwischen dem Willen ihrer Mutter und dem Versprechen, das sie ihrem Vater gegeben hatte, als er herausgefunden hatte, dass sie eine Magierin war.

Letztendlich hatte ihre Mutter sie doch unterstützt und sie war allein aufgebrochen, damals hatte sie noch nicht daran gedacht, dass ihre Mutter es einfach getan hatte um ihr die unmögliche Entscheidung abzunehmen. Erst viel später war ihr diese Tatsache eingeleuchtet und in der Nacht an eben diesem Tag, verspürte sie erstmals das stechende Heimweh, das sie noch oft heimsuchen würde.

Als Amaria ihren Weg fortsetzte, stellte sie fest, dass sie vollkommen das Zeitgefühl verloren hatte, denn im Gegensatz zu Nox, der ihr stets eine mehr oder weniger genaue Angabe geben konnte, hatte sie kaum Zeitgefühl. Ihr einziger Anhaltspunkt war stets die Sonne gewesen, doch nun da die hohen Bäume sie verdeckten wusste sie nicht wie lange sie schon unterwegs war also blickte sie nur starr auf den Weg vor ihren Füßen.

Nachdenklich sah sie die Bäume und Büsche am Wegrand an und fragte sich ob sie sie schon einmal betrachtet hatte, denn obwohl sie wusste, dass dies eben der Weg war den sie zuletzt vor vier Jahren beschritten hatte, schien die Umgebung doch so neu für sie. Beinahe hatte sie vergessen, dass der Wald lebendig war, wie ein einziges, großes Wesen, das stets wuchs und sich veränderte. Ein Wesen, das ihr in ihrer Abwesenheit entglitten war und jetzt so seltsam fremd auf sie wirkte.

Ein Zweifel keimte in ihr auf und eine leise Stimme, die sie bisher angestrengt versucht hatte zu ignorieren meldete sich erneut und stärker als je zuvor. Was, wenn sie dort gar keinen Platz mehr finden würde? Was, wenn ihre Mutter sie gar nicht mehr wollte? Und was wenn sie überhaupt nicht mehr dort lebte? Immerhin hatten sie jetzt fast seit drei Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt, denn irgendwann war der Briefstrom abgerissen und Stille war eingekehrt.

Das Mädchen schluckte und schob den Gedanken erneut beiseite, darauf durfte sie sich jetzt nicht konzentrieren. Nicht jetzt, da sie so kurz davor stand zurückzukehren. Abwesend warf sie die Tasche über ihre Schulter und blickte einmal zurück, den Waldweg entlang, der sich in der Entfernung in einer Kurve verlor. Aus dem Augenwinkel dachte sie eine Gestalt in den Bäumen zu vernehmen, doch da kein Geräusch folgte wandte sie sich wieder ab.

Als sie wieder nach vorne blickte, schien ihr Herz kurz auszusetzen und begann dann erneut, jedoch viel schneller zu schlagen, denn in der Ferne erkannte sie den kunstvollen Steinbogen, der von der anderen Seite den Eingang zum Wald kennzeichnete. Ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht aus und ohne dass sie es bemerkte, beschleunigten sich ihre Schritte.

Sofort schossen Erinnerungen durch ihren Kopf, Bilder aus ihrer Kindheit und von ihrer Mutter, die sie ermahnte nicht weiter zu gehen, als bis zum Bogen. Ihn zu durchschreiten war ihr stets verboten geblieben und so wurde er mit der Zeit zu einer magischen Grenze. Eine Grenze, die Bekanntes von Unbekanntem trennte, das stetige, helle Licht des offenen Feldes, vom lebhaften Licht und Schattenspiel des Waldes. Früher wollte sie stets nichts mehr als die Geheimnisse hinter den Bäumen und Büschen zu entdecken, heute jedoch wollte sie nur in das zurück, dass sie kannte. Nichts mehr wollte sie, als dorthin zurückzukehren, wo sie den Weg auch in der Finsternis ohne Probleme fand und wo an jedem Ort andere Erinnerungen verankert waren.

Zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt