Kapitel 57 - Amaria

2 0 0
                                    

Selbst noch einige Zeit nach dem Kampf schien das Adrenalin in dem Mädchen nicht nachgelassen zu haben. Immer noch hörte sie ihren Herzschlag laut und deutlich in ihren Ohren. Immer noch zuckte sie bei jedem unnatürlichen Geräusch von sich kreuzenden Klingen zusammen.

Lumen war bei ihr geblieben, zwar schien er ihre mangelnde Motivation sich zu unterhalten zu teilen, doch allein schon seine Anwesenheit beruhigte sie ein wenig. Wenn auch bei weitem nicht genug.

Lux war nach seinem Auftritt rasch wieder verschwunden. Gleich nachdem die Trägerin die Treppen hinaufgegangen war hatte er die Waffe aufgesammelt, die sie im Ring zurückgelassen hatte und war in die Menge abgetaucht.

Zuerst hatte Amaria versucht ihm zu folgen, sich dann jedoch anders entschieden. Sie durfte nun nichts überstürzen. Immerhin kannte sie ihn kaum.

Wieder ging ein Raunen durch die Menge; wieder zuckte sie zusammen. Wieder wandte sie sich zu Lumen um, nur um festzustellen, dass er noch bei ihr war. Sie schluckte, ein jäher Anflug von Schulgefühlen drohe beinahe sie zu übermannen. Doch bevor das Stechen einsetzten konnte wurde sie wieder von etwas anderem abgelenkt. Offenbar hatte Lumen mehr Erfolg jemanden in der Menge zu erkennen.

Langsam wandte sie sich ab und folgte seinem Blick. Es brauchte einige Augenblicke bis sie bemerkte was er meinte. Das Ziel seiner Aufmerksamkeit schien ein Junge zu sein, der seine braunen Haare schlecht unter einer Kapuze versteckte. Bemerkenswerter waren jedoch seine abgenutzten Kleider. Das Zeichen der Vertere.

Ohne sie zu bemerken beschlich sie der Gedanke, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte. Jedoch konnte sie sich in diesem Augenblick nicht erinnern an wen. Für einige Sekunden starrte sie noch in die Richtung, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte; auch wenn er bereits verschwunden war, dann drehte sie sich wieder zurück zu Lumen.

Eigentlich wollte sie fragen, ob er den Jungen erkannte, waren sie sich schon einmal begegnet? Doch stattdessen stellte sie eine andere Frage: „Sollen wir ihm folgen?"

Es war seltsam ihre eigene Stimme wieder zu hören. Beinahe surreal nach all der Zeit in der sie geschwiegen hatte.

Doch die Antwort des Anderen hörte sie gar nicht mehr, denn nach einem weiteren Blick auf den Ausgang schien sie wieder zu Eis zu gefrieren. Stumm betrachtete sie wie Nox langsam aber sicher die Treppen hinunterschlich und sich von der letzten Stufe aus umsah. Zwei Mal wanderte sein Blick über die Stelle wo sie mit Lumen stand, doch entweder schien er sie nicht für wichtig genug zu befinden oder er erkannte sie nicht, denn wenige Augenblicke später verließ er seine Position und schlug den gleichen Weg ein wie der Junge.

Augenblicklich setzte auch sie sich in Bewegung, ihre Gedanken wieder dabei immer schneller zu rattern, bis sie den Anderen noch erreichte bevor er in dem Durchgang verschwand.

„Hey", rief sie ihn zurück und packte ihn am Arm.

Als würde ein wildes Tier ihn angreifen sprang er zurück und wirbelte herum. „Amaria", stieß er erschrocken aus und starrte sie an.

„Was machst du hier?"

Immer noch perplex antwortete der Junge zuerst nicht, stattdessen warf er einen Blick in den dunklen Gang hinter sich. „Ich suche jemanden", nuschelte er, jedoch so leise, dass sie ihn beinahe nicht verstehen konnte.

„Wer war das? Hey, warte!"

Wieder griff sie nach seinem Arm, erwischte dieses Mal jedoch nur sein Handgelenk. Scheinbar abwesend hatte er sich wieder umgewandt und wollte verschwinden. „Was ist los, sprich mit mir."

Der Blick, den sie als Antwort auf ihre Aufforderung erhielt war kälter als Eis. „Mit dir sprechen? Seit wann denn das?"

Nicht im Stand zu antworten starrte sie ihm für einige Sekunden lang hilflos entgegen, dann wandte er sich wieder ab und setzte kopfschüttelnd seinen Weg fort.

‚Was meinst du damit?', wollte sie rufen, doch die Worte schienen in ihrem Hals stecken zu bleiben. Stattdessen folgte sie ihm; ihre Beine fühlten sich schwerer an als zuvor.

Auf halbem Weg durch den Gang warf Nox einen abschätzenden Blick nach hinten, der den Dolch tiefer in ihr Herz bohrte. Sie kannte den Blick, doch sie hatte er noch nie so angesehen ...

Trotzdem ließ sie sich nicht davon abhalten ihm weiterhin zu folgen, auch wenn sie dafür weitere seiner Blicke erntete. Abschätzend. Herablassend.

„Nach was suchen wir?", flüsterte sie schließlich trotzdem in seinen Rücken. Sie bemerkte, wie der Junge bei dem letzten Wort leicht zuckte, ob er gelacht oder das Gesicht verzögen hatte konnte sie nicht einschätzen.

„Vorhin hat Elias mit Alexei gesprochen."

Stille breitete sich zwischen ihnen aus, während Amaria überlegte von wem er sprach. Dann kam es ihr plötzlich. „Der Junge aus Nivie", schloss sie laut. „Der Sohn ..."

„Ja", unterbrach sie der Andere bevor sie ihren Satz beenden konnte. Wieder wurde er still, dann, gerade als sie dachte er würde nichts mehr sagen, setzte er noch etwas hinzu. „Elias hat ihn zu seinem Vater geschickt."

Amarias Gedanken wanderten für einen Augenblick zu dem Jungen, der vor wenigen Minuten noch an ihr vorbeigelaufen war und sie musste daran denken, was Elias ihr von der Begegnung der Trägerin der Vertere erzählt hatte. Doch woher wusste Nox davon? Hatte er sie und Elias belauscht?

Den Blick des Jungen, wie er bei ihrem Gespräch mit Elias den Raum verlassen hatte vor dem inneren Auge, schwieg sie für den Rest ihres Weges.

Wie erwartet blieb Nox vor Lux' Raum stehen, offenbar enttäuscht darüber, dass er den Jungen nicht zuvor gefunden hatte. Die Hand bereits auf dem Türgriff warf ihr einen letzten Blick zu, der nicht offensichtlicher hätte sein können. Er wollte sie nicht hier haben. Trotzdem blieb sie an Ort und Stelle, sodass der stumme Kampf damit endete, dass der Junge die Tür öffnete.

Zu ihrer Überraschung war der Raum leer. Das Einzige, was anders war als bei ihrem letzten Besuch war ein schimmerndes Licht, das von einem Portal ausging, das auf der anderen Seite des Tisches geöffnet worden war.

„Er ist weg."

Amaria war sich sicher, dass er nicht mit ihr sprach, trotzdem nickte sie.

„Er ist weg", wiederholte Nox und starrte auf das Portal, scheinbar in Gedanken wieder an einem ganz anderen Ort. Ihn neugierig betrachtend bemerkte sie seinen Blick sofort, er indes schien sie gar nicht richtig wahrzunehmen.

Dann, wieder ohne auch nur einen Ton zu sagen, drehte er sich erneut von ihr weg und schritt auf das Portal zu.

„Warte", rief sie ihm hinterher und ein Stein schien von ihrem Herzen zu fallen, als er sich abwandte, denn für einen Augenblick war sie sich sicher gewesen, dass ihre Worte nicht genügt hätten. „Wo gehst du hin?"

„Ich werde ihm folgen."

Wieder starrten sie sich an, dieses Mal wollte das Mädchen ihm die Worte vermitteln von denen sie nicht wusste, wie sie sie am besten sagen sollte.

Der Junge schüttelte den Kopf. „Nein, er ... er ist nicht so, er ist keiner von ihnen", antwortete er und weiß auf den Schreibtisch. „Alexei hat das alles nicht verdient. Ich weiß es einfach."

Für einige Sekunden hielt sie seinem Blick noch stand, dann schien ihr Herz immer schneller zu pochen, bis sie es wieder laut und deutlich in ihrem Kopf hörte. Sie nickte. „Gut", lächelte sie ihm entgegen. „Dann lass mich mitkommen."

Für einen Augenblick standen die Worte offen im Raum; genauso wie ihre Hand die sie nach dem Jungen ausgestreckt hatte und ihr Herz wurde immer schwerer, je mehr Sekunden er verstreichen ließ.

Dann jedoch griffen seine Finger in ihre und er zog sie direkt in das Portal, hinaus aus der Höhle und Raviar, hinein in ihr nächstes, unbekanntes Ziel.


Zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt