Kapitel 15 - Amaria

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Amaria gähnte und streckte sich einmal ausgiebig, sodass eins der Bücher, die sie auf ihrem Schoß liegen hatte vor ihr auf die Erde fiel. Automatisch bückte sie sich danach und stöhnte laut als weitere dem Beispiel des ersten folgten. Demotiviert löste sie ihre bequeme Haltung, eine seltsame Mischung zwischen liegen und sitzen zwischen zwei der Stühlen, die vor dem kleinen Haus standen und kniete vor den Büchern nieder um sie aufzulesen.

Nachdem sie vor einigen Tagen zurückgekommen war hatte sie nicht gewusst was sie mit ihrer neu gewonnenen Zeit anfangen sollte. Zuerst hatte sie beschlossen, dass sie ihrer Mutter helfen würde, die im Dorf in der kleinen Schneiderei ihrer Schwester arbeitete, doch ihre Tante hatte es ihr untersagt.

Ein paar Tage zuvor hatte ihre Mutter ihr dann das Bücherregal mit den alten Büchern ihres Vaters gezeigt und unter ihnen hatte sie ein altes Tagebuch aus der Zeit, die er bei den Häusern verbracht hatte gefunden. Anfangs hatte sie es interessant gefunden in ihnen zu blättern und somit die Welt die sie gerade verlassen hatte mit den Augen ihres Vaters zu erleben, doch seit zwei Tagen war sie nach etwas anderem auf der Suche.

Zum ersten Mal war es ihr in der allerersten Nacht geschehen. Als hätte sie jemand gerufen war sie mitten in der Nacht aufgewacht, doch nachdem sie sich müde die Augen gerieben und umgesehen hatte war da niemand. Verwirrt war sie aufgestanden und hatte nachgesehen ob sie jemanden finden konnte, doch niemand außer ihr war außerhalb seines Betts.

Als sie jedoch wieder in ihr Zimmer gegangen war, sich selbst schon für ihr allgegenwärtiges Misstrauen tadelnd, hatte sie eine Gestalt vorgefunden, die starr vor ihrem Schrank stand und dessen weiße Augen direkt in ihre blickten.

Mittlerweile war sie froh darüber, dass sie leise geblieben war und niemanden im Haus geweckt hatte, so war sie nur erstarrt und hatte versucht einige Schritte zurückzuweichen bis sie mit dem Rücken an die Tür gestoßen war.

Selbst jetzt im hellen Sonnenschein konnte sie sich nur zu gut an das beklemmende Gefühl erinnern, als die Gestalt langsam Schritt für Schritt auf sie zugekommen war, eine aufgedunsene Hand ihr gegenüber erhoben und wie ihr Kopf geschrien hatte, sie sollte einfach nur weglaufen, bis die Gestalt einfach verschwunden war.

Den Rest der Nacht hatte sie damit verbracht starr in ihr dunkles Zimmer zu starren, bei all dem was sie in den letzten Jahren gesehen hatte, hatte sich noch niemand einfach in Luft aufgelöst, doch ohne es zu bemerken war sie irgendwann doch eingeschlafen.

Amaria hätte es als Einbildung abgestuft, doch am nächsten Tag war er wieder erschienen, dieses Mal mitten am Tag, als sie gerade mit ihrer Mutter und Tante im Garten war. Und dieses Mal war er nicht nach einigen Sekunden verschwunden. Er war dagestanden wie eine Statue; starr, blass und unbeweglich aber immer mit demselben durchdringenden Blick mit dem er sie aus seinen weißen Augen anstarrte.

Langsam aber sicher hatte sich über den Tag immer mehr der Gedanke verfestigt, dass sie nun vollkommen verrückt wurde, bis sie am Abend die eindringliche Stimme ihrer Tante aus der Küche vernommen hatte.

„Halte mich nicht für so blind. Ich weiß, dass sie etwas verbirgt, du hast auch ihren Blick gesehen", murmelte sie und ein mulmiges Gefühl überkam Amaria. „Sie hat einfach minutenlang ins Leere gestarrt und dann sah es so aus, als würde sie mit etwas kommunizieren."

Stille kehrte für einen Moment ein, dann antwortete die müde Stimme ihrer Mutter. „Und was willst du mir damit sagen?"

Ein Stuhl wurde zurückgeschoben und Amaria war sich sicher, dass es ihre Tante war, die eben aufgestanden war. „Du weißt genau was ich dir damit sagen will, stell dich nicht so dumm. Ich habe dich damals schon gewarnt, als das was du deinen Mann nanntest angefangen hat diese Gestalten zu sehen. Sie sind verrückt, alle sind sie verrückt und gefährlich, wenn du dich nicht von ihnen fernhältst ..."

„Was?", zischte ihre Mutter zurück. „Was könnte sie schon tun?"

„Das weißt du ganz genau", entgegnete die andere aufbrausend. „Sie sind gefährlich, allesamt. Ich will dich nur beschützen, das tut man für seine Familie."

Ein bitteres Lachen drang aus dem Raum. „Hörst du dich überhaupt noch? Wie kannst du so etwas sagen und mich gleichzeitig davon überzeugen wollen, dass ich meine Tochter verstoße?"

„Sei nicht albern. Amaria gehört nicht mehr zu dieser Familie, schon seit dem Tag nicht mehr, als sie doch verlassen hat."

Jäh verspürte Amaria einen Schlag in die Magengegend. Auch wenn es ihre Tante gesagt hatte und sie sich ohnehin gegenseitig nicht besonders mochten schmerzten ihre Worte. Für einen Moment kam in ihr die Frage auf wie ihre Mutter darüber dachte, nur um sie gleich beantwortet zu bekommen.

„Ich weiß deine Sorgen wirklich zu schätzen, aber ich werde meine Tochter nicht verstoßen. Sie wird bei mir immer einen Platz haben."

„Aber-"

„Nichts aber." Wieder scharrte ein Stuhl über den Boden und ein Paar Füße kam auf Amaria zu sodass sie hastig hinter die nächste Tür huschte. „Solange ich hier bin werde ich dafür sorgen, dass sie hierbleiben kann."

Dankbarkeit durchströmte das Mädchen und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie an die Worte ihrer Mutter zurückdachte.

In Gedanken hatte sie aufgeblickt und auf die Straße gestarrt, sodass sie gerade sah wie ihre Mutter Seite an Seite mit ihrer Tante auf sie zukam. Vielleicht fand sie in den Büchern ihres Vaters ja etwas darüber, offenbar hatte er ja Ähnliches gesehen. Und das würde sicherlich alles erklären.

Als die beiden zum Haus einbogen hob Amaria die Hand zum Gruß, was der einen Frau ein aufrichtiges Lächeln aufs Gesicht brachte, während sich der Mund der anderen nur zu seiner seltsamen Welle kräuselte.

In dem Augenblick, als ihre Tante an ihr vorbeischritt hob sie die Hand vor ihr Gesicht, eigentlich eine unbewusste Geste, die jedoch ihr Gesicht verdeckte. Ihre Mutter dagegen beugte sich über die aufgeschlagenen Seiten auf Amarias Schoß und lächelte leicht. „Immer noch damit beschäftigt?", lachte sie. „Hast du etwas Interessantes gefunden?"

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Wie war es im Dorf?"

„Wie immer", erklärte die ihr Gegenüber mit einem Achselzucken.

Ihre Mutter setzte sich neben ihr auf einen leeren Stuhl und blickte sie nachdenklich an. „Weißt du, mir ist da etwas aufgefallen."

Amaria schluckte und sah sie ein wenig verängstigt an. Sie kannte den Ton in der Stimme der Frau nur zu gut. Sie machte sich Sorgen.

„Ich habe bemerkt, dass du die letzten beiden Nächte nicht besonders viel geschlafen hast. Irgendwie habe ich das Gefühl dich beschäftigt etwas und du bist deshalb so ... unruhig."

Sie gab Amaria die Chance etwas zu erwidern, doch diese schwieg also sprach die Frau weiter.

„Hast du Alpträume? Verfolgt dich etwas?"

Amaria schüttelte den Kopf.

„Wenn es etwas damit zu tun hat, dass du nicht mehr im Haus bist, ist das in Ordnung es wäre nur am Besten wenn du ..."

„Es ist alles in Ordnung, Mum", unterbrach sie sie gereizt.

Ihre Mutter blickte sie noch für einen Moment an, offensichtlich nicht mit der Antwort zufriedengestellt, doch sie sagte nichts mehr. Als sie nach einigen Minuten wieder aufstand und davonging schien ihr Gesicht zwar glatt, gleichzeitig jedoch nachdenklich und eben dieser Ausdruck schien sich auf ihrem Gesicht einzubrennen so war er auch das erste, was sie sah, als sie Stunden später zum Abendessen in die Küche kam.

Mittlerweile bereute Amaria, dass sie sie so unwirsch angefaucht hatte. Mit ihrem Verhalten gab sie ihrer Mutter nur noch mehr Gründe zur Sorge und damit ihrer Tante recht. Und das war das letzte, was sie bewirken wollte. Womöglich hatte ihre Mutter erst auf den Rat ihrer Tante beschlossen sie darauf anzusprechen.

Gleichzeitig hatte sie jedoch das Gefühl, die Gestalt nicht für immer ignorieren zu können und so zu tun, als wäre sie nicht da, denn heute erwartete er sie bereits beim Abendessen. Und während sie ihr Brot aß, obwohl sie überhaupt keinen Appetit hatte, versuchte sie sich nichts anmerken zu lassen, zur selben Zeit spürte sie jedoch deutlich die Blicke der drei anderen auf sich.


Nächstes Update: Sonntag, 14.10.2018

Zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt