Ein lautes Seufzen durchschnitt die Stille, die sich über die hereinbrechende Nacht gelegt hatte. „Was tust du da, Alexei?", murmelte die Trägerin laut und schüttelte verständnislos den Kopf. Doch statt ihm zu folgen und ihn aufzuhalten beobachtete sie einfach, wie zuerst der Mann und dann der Junge in dem Portal verschwanden und bereits Sekunden später schien alles, als seien sie nie da gewesen.
Sie hätte ihn aufhalten können. Sie hätte ihn aufhalten sollen; oder es zumindest versuchen ...
Mit einem geschmeidigen Satz sprang das Mädchen aus der Baumkrone, in der sie sich versteckt hatte. Nun, da sie sich hier in dem Garten hinter dem Gasthof befand konnte sie sehen, was Alexei mit seinen Erzählungen beschreiben hatte wollen.
An die leicht hügelige Grasfläche grenzte an einer Seite ein kleines Waldstück, an der anderen Stand das Haus, womit sie von allen Seiten gut abgeschirmt waren. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie der Wind durch die Blätter des Waldes rauschte und die Sonne die Umgebung angenehm erwärmte. Ein wirklich idyllisches Plätzchen; das einzige, was das Bild zerstörte war der vertrocknete Nussbaum ein Stück weiter in der Grasfläche als der Baum in dem sie Zuflucht gesucht hatte.
Sie konnte gut verstehen, warum ihre Mutter diesen Ort Nivie vorgezogen hatte. Obwohl sie wusste, dass sie die Gedanken kein Stück weiterbrachten kam sie nicht umhin zu fragen was passiert wäre, wäre sie nicht bei ihrem Vater in der Stadt aufgewachsen. Wäre sie hier glücklicher gewesen?
Die Trägerin lachte laut auf. Ein verzweifelter, sarkastischer Laut, der den angestauten Gefühlen in ihrer Brust etwas Platz zu geben schien. Hatte sie Alexei deshalb gehen lassen? Damit er am eigenen Leib spürte wie es in Nivie war? Wie einsam man dort sein konnte?
Nein, dachte sie bestimmt und versuchte den Neid und die Bitterkeit herunterzuschlucken. Nein, sie hatte ihn gehen lassen, weil sie nicht nach Nivie zurückkonnte. Weil sie keinen Fuß in die Stadt setzten konnte ohne ihrem Vater zu begegnen. Ohne seine Konsequenzen zu ertragen. Sie würde nie dorthin zurückkönnen.
Bereits wieder auf der Straße vor dem Haus angelangt warf sie einen Blick auf die dunkle Gaststube des Gebäudes. Gleichwohl, was sprach dann gegen das Leben, das ihre Mutter geführt hatte? Sie hatte keine Kinder, die sie zurückließ. Alles was sie in Nivie verlassen hatte waren leere Räume, ein eifersüchtiger Bruder und eine allseits treue Schwester, die alles tat, was ihrem Vater gefiel.
Und doch, die schlimmsten Menschen sind die, die einfach wegsehen, schoss es ihr wieder durch die Gedanken und sie schüttelte den Kopf. Nein, sie würde niemals so werden wie ihre Mutter. Nie.
Als die Person, die gerade an ihr vorbei huschte, den Kopf senkte und verstohlen zu ihr blicke, sah sie ebenfalls auf. Verwirrt drehte sie sich um, damit sie die Gestalt besser betrachten konnte, die in der nächtlichen Dunkelheit offenbar erpicht darauf war so schnell wie möglich möglichst viel Abstand von ihr zu gewinnen.
Die Farben der Kleider erkennend sank ihr Herz in die Hose. Obwohl sie bisher kaum mit den Prevoir in Kontakt gekommen waren, würde sie die Farben der Häuser überall erkennen.
Für einige wertvolle Sekunden stand sie einfach nur da und starrte der Gestalt hinterher. Einer Gestalt, die sie offenbar erkannt hatte. Einer Gestalt, die offenbar genau den Weg zu Alexeis Zuhause einschlug.
Dann, wie von einem Blitz getroffen hastete sie zurück einen anderen Weg, direkt zu dem Haus von dem sie gerade gekommen war. Als sie den Garten erreichte lag dieser größtenteils im Schatten und ein Windstoß trieb ihr die Gänsehaut in den Nacken bevor sie eintrat.
Zu ihrer Verwunderung war die Tür hinten zum Haus nicht abgeschlossen, also bahnte sie sich unaufhaltsam ihren Weg durch die Küche und dann hinauf in die oberen Stockwerke. Nicht recht wissend wo sie suchen sollte lugte sie in Raum für Raum, allzeit damit rechnend, dass ihr eine Gestalt entgegenspringen würde.
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Zwischen Licht und Schatten
FantasyDie Welt ist gespalten zwischen vier Namen, vier Familien: Vertere, Travail, Prevoir und Pensee. Vier Familien, die das Land unter sich aufteilen und die Macht für sich beanspruchen. Weit davon entfernt wächst Alexei mit seiner Familie in einem kle...