Ein erschrockener Laut entwich ihrer Kehle, bis ihre Beine wieder auf festen Boden trafen und sie erkannte den dunklen Wald vor sich.
Verwirrt sah sie sich um. Alexei stand einige Meter von ihr entfernt, seine braunen Augen musterten sie. Samantha oder ihre Schwester, die womöglich auch an diesem Ort sein mochten, konnte sie nicht erkennen.
„Wo ist ...", begann Ezra, doch Alexei schüttelte einfach nur den Kopf.
Die Trägerin, sah sich nochmals um, doch außer ihnen beiden konnte sie niemanden erkennen.
„Es hat aufgehört", sagte dann plötzlich Alexei leise und deutete auf den Stab, den das Mädchen in der Hand hielt. Offenbar hatte sie ihn bei ihrer Rückkehr aus dem Boden gezogen.
Abwesend starrte sie für einen Augenblick auf das blank polierte Holz, dann nickte sie.
„Was machen wir jetzt?" Seine Stimme war leise und wieder fragte sich das Mädchen, ob er überhaupt zu ihr sprach, doch sie antwortete ihm trotzdem.
„Wir sollten zurück zum Haus der Trägerin gehen", meinte sie leise, doch Alexei starrte sie nur entsetzt an und schüttelte wild mit dem Kopf.
„Nein...", begann er, doch Ezra ließ ihn seinen Satz nicht beenden: „Bevor du mich jetzt als verrückt und dumm und fahrlässig bezeichnest, das weiß ich schon. Ich habe nur so ein Gefühl, dass wir nochmal nach ihr sehen sollten."
Wieder schüttelte Alexei wild den Kopf. „Warum?", fragte er verständnislos.
Ezra zögerte. „Vielleicht ist ja der Mann wieder bei ihr. Vielleicht finden wir so etwas über heraus." Für einen Augenblick war sie überrascht, wie leicht die Lüge ihr von den Lippen kam, doch dann realisierte sie, dass sie womöglich gar nicht so unrecht hatte, wie sie zu Beginn vermutet hatte, also sprach sie einfach weiter. „Wäre es nicht sinnvoll für ihn zurückzukommen, nachdem er uns hergeschickt hat? Vielleicht kennen sie sich ja, vielleicht wissen sie etwas über unsere Mutter." Sie sprach die Worte aus, bevor sie sich recht überlegt hatte, was sie sagen sollte, doch die letzten beiden Wörter schienen einen bitteren Nachgeschmack auf ihrer Zunge zu hinterlassen. Unsere Mutter.
Doch Alexei erwähnte es nicht. Stattdessen starrten seine rehbraunen Augen ihren entgegen.. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen konnte er ihren Standpunkt verstehen, auch wenn er sich dessen unsicher war. Er hatte ihre Lüge also nicht durchschaut. „Das sind mir aber ein bisschen zu viele ‚vielleicht'", erwiderte er dann schließlich leise.
Ezra schluckte. Er hatte recht. Der einzige Grund, warum sie zurückgehen wollte war, weil sie das Bild nochmals genauer betrachten wollte. Sie war sich sicher bei ihrem ersten Mal hatte sie nicht alles davon gesehen. Außerdem wusste sie nun wonach sie Ausschau halten musste, doch es schien kaum sinnvoll dafür nochmals zum Haus zurückzukehren.
Aber dieses Mal weiß ich, was ich zu erwarten habe, schoss es ihr durch den Kopf. Ja. Die letzten beiden Male war sie einfach blind in ihr Verderben gerannt ohne auch nur nach rechts oder links zu blicken. Nun würde sie vorsichtiger sein. Die Wächterin würde sie nicht nochmals so überraschen.
„Ich denke wirklich, es könnte uns helfen", meinte sie leise und sie sah, wie Alexei auf ihre Worte hin mit sich haderte.
Sein Mund kräuselte sich zu einer Linie. „Wir wissen nicht einmal, wie viel Zeit vergangen ist", bemerkte er und schüttelte wieder den Kopf. „Nein, ich ...", er zögerte. Dann schüttelte er wieder den Kopf. „Nein, ich komme nicht mit."
Ezra nickte langsam. Er war vernünftig, viel vernünftiger als sie. Kurz überlegte sie noch, dann holte sie mit dem Stab aus und rammte ihn wieder vor sich in den Boden.
Von dem Jungen kam ein entsetzter Laut, offenbar hatte er schon Angst gehabt, dass sie ihn damit treffen wollte und sie bemerkte, wie ihre Mundwinkel nach oben zuckten. „Wir sollten ihn hier lassen", erklärte sie. „Wenn sie danach sucht kommt sie bestimmt zurück."
Alexei nickte langsam und sah sich dann um. „Ja, ich habe sie vorhin nicht gesehen."
Während der Andere sich noch umsah fischte die Trägerin die Taschenuhr aus ihren Kleiderschichten, die immer noch eiskalt schienen und warf einen Blick darauf. Alle Zeiger deuteten in verschiedene Richtungen, eine davon zeigte zitternd in die Richtung rechts hinter ihr. Die Richtung, die den Berg hinauf zum Haus der Wächterin führte.
Das Mädchen biss sich auf die Lippe. Alexei hatte recht. Es war dumm zurückzugehen. Er war vernünftig. Sie würde es jedoch nicht sein.
„Alexei", ein schiefes Lächeln legte sich über ihr Gesicht. „Wenn du möchtest kannst du im Dorf auf mich warten, aber ich möchte noch einmal zurückgehen." Sie legte eine kurze Pause ein, dann zog sie die Kette über ihren Kopf und reichte dem Anderen den Gegenstand. „Hier. Nimm sie. Für den Fall, dass du ihn noch einmal brauchst." Für den Fall, dass ich nicht zurückkomme. „Vielleicht findest du ja ein Gasthaus. Dort findet man oft mehr heraus, als man denkt."
Alexeis Blick ruhte für einen Moment auf der glatten Oberfläche, dann trafen seine Augen wieder auf ihre. Braun auf Braun. Jedoch nickte die Trägerin daraufhin nur schlicht und wandte sich dann ab, bevor er noch etwas erwidern konnte.
Sie rannte los, immer der Richtung nach, die ihr die Nadel vorgegeben hatte. Als sie schließlich zurück zum Weg fand verlangsamte sie ihre Schritte und blickte für einen Augenblick zurück auf das Dorf, das aus der Entfernung wirkte, wie ein hell erleuchtetes Lager. Doch bevor sie es sich anders überlegen konnte spurtete sie wieder los, in ihrem Kopf wiederholten sich immer wieder die Worte, die ihrer nun neuen Hoffnung vergeben mochten.
Schon als Kind hatte man ihr Geschichten von fremden Welten erzählt. Für sie jedoch waren es nie mehr als Märchen. Doch was, wenn es stimmte? Was, wenn es wirklich noch etwas anderes gab? Was, wenn es noch eine Chance gab, dass er noch am Leben war?
DU LIEST GERADE
Zwischen Licht und Schatten
FantasyDie Welt ist gespalten zwischen vier Namen, vier Familien: Vertere, Travail, Prevoir und Pensee. Vier Familien, die das Land unter sich aufteilen und die Macht für sich beanspruchen. Weit davon entfernt wächst Alexei mit seiner Familie in einem kle...