Kapitel 88 - Nox

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Der Moment in dem er die Augen öffnete schien eine Ewigkeit zu dauern. Stöhnend hob er den Kopf ein Stück und fluchte innerlich dafür, wie stark er noch pochte. Dann, als die Erinnerung zurückkehrte schrak er hoch, zuckte gleichzeitig jedoch wegen dem aufschreienden Schmerz in seinem Kopf zusammen.

Der Raum um ihn herum war heller als zuvor, offenbar hatten die Anwesenden einige Kerzen entzündet, denn der Ständer, der an der Decke hing war immer noch dunkel. Nox schluckte und stutzte, als er bemerkte, dass er saß. Offenbar war er geistig noch nicht ganz auf der Höhe, denn er hätte schwören können sich vorher nicht an einer Wand befunden zu haben.

„Wer bist du?"

Mit den Worten erschien etwas Silbernes vor seinem Gesicht. Erschrocken erkannte er seine Klinge. Instinktiv zuckte er zurück, stieß dabei aber wieder seinen Kopf gegen die Wand. Ein weiterer Anflug von Schmerzen ließ ihn stöhnen.

„Wer bist du?", wiederholte die Stimme, nun deutlich gereizter.

Obwohl seine Sicht noch verschwommen war blickte er auf. Vor ihm stand ein hoch gewachsener Mann. Seine blonden Haare fielen unordentlich in die blauen Augen, die müde und ausgezehrt tief in ihren Höhlen standen. Er schien erschöpft. Gleichzeitig jedoch nicht minder gefährlich. „Ich bin niemand", antwortete Nox leise, seine Stimme glich einem rauen Krächzen. Er räusperte sich.

„Wie poetisch", stellte der Mann trocken fest, ging jedoch nicht weiter darauf ein. „Wo ist meine Tochter?"

Seine Frage ließ Nox aufhorchen und er sah sich um, erblickte doch abseits des Fremden niemanden? „Ich ... weiß es nicht."

„Lügner", schnitt ihm der Blonde das Wort ab und die Klinge näherte sich seinem Kopf noch ein Stück weit. „Wo ist sie?"

„Ich weiß es nicht", antwortete der Andere ehrlich, den Blick auf die Spitze des Metalls gerichtet. „Das letzte Mal als ich nachgesehen habe war sie noch hier."

Er machte eine Pause, darum betend, der Mann würde den Gegenstand wieder aus seinem Gesicht nehmen, doch dieser schien gar nicht daran zu denken.

„Ich wollte ihr eigentlich helfen", setzte Nox also seiner Erklärung fort, „Ich wollte, sie beschützten, weil ..." Er stutzte.

„Warum?"

Den Kopf so weit wie es ging nach hinten drückend schloss er die Augen. „Weil es meine Schuld ist, dass die Prevoir überhaupt erst auf sie Aufmerksam wurden."

Schwer atmend hielt er inne, sich sicher, dass seine letzte Stunde bereits geschlagen hatte. Sein Herz klopfte so stark, dass es seinen Schädel beinahe zum platzten brachte.

Doch nichts geschah.

„Wie meinst du das?"

Immer noch in seiner Haltung verweilend öffnete er die Augen und bemerkte, dass der Andere ein Stück zurückgewichen war. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Keine Wut spiegelte sich mehr darin; nun war es Angst.

Nox zögerte. „Ich kenne ihren Sohn, Alexei."

Bei allen Antworten, die er ihm hätte geben können, war dies wohl diejenige, die der Mann als letztes erwartet hätte. Offenbar verwirrt lag sein fragender Blick noch drängender als zuvor auf ihm, also erzählte ihm Nox was er wusste. Er erzählte ihm von Claire und Noah mit denen er hergekommen war, wie Alexei mit ihnen gekommen war, wie sie schließlich von den Vertere gefunden wurden und was er danach noch erfahren hatte.

Es war seltsam, doch hatte er einmal damit begonnen, fiel es ihm schwer wieder aufzuhören, also erzählte er weiter von Amaria und den Gestalten, die sie sehen konnte. Davon, dass sie ihn allein gelassen hatte und beschlossen hatte die Prevoir gegen die Vertere aufzuhetzen.

Der Verrat wog ihm schwer im Magen, trotzdem beendete er seine Erzählung damit, wie er hergekommen war um Alexeis kleine Schwester zu beschützen und wie er festgestellt hatte, dass sie nicht allein war.

Nachdem er seinen letzten Satz beendet hatte kehrte wieder Stille zwischen ihnen ein. Nox betrachtete den Mann, der gedankenversunken ein Stück an ihm vorbei starrte. Die Sorge um seine Kinder brannte immer noch in seinen Augen. Nox schluckte, als er daran zurückdachte, wie er Alexei überzeugen hatte wollen nach Hause zurückzukehren. Und wie dieser dann über seinen Vater geschimpft hatte.

„Deine Freundin, wie war ihr Name nochmal?"

Nox schluckte, ein weiterer Stich in seinem Herzen. „Amaria."

„Und sie kann Geister sehen? Tote Menschen?"

Nox nickte.

Als es wieder still wurde zögerte er kurz und biss sich auf die Lippe. „Warum fragen Sie?"

„Ich kannte einst einen Mann, von dem gesagt wurde er habe dieselben Fähigkeiten, ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen. An dem Tag an dem er starb."

Nox erstarrte. „Was? Was ist passiert?"

Die kalten, blauen Augen des Mannes trafen die von Nox. „Erbarmungslos und zielstrebig wollte er die Trägerin der Prevoir ermorden. Zwar ist sie an jenem Abend nicht gestorben, trotzdem hat er sein Ziel erreicht." Er schluckte. „Der Vater der Trägerin starb an jenem Tag."

Für einen Augenblick schienen die Worte des Mannes in Nox Kopf umherzuschwirren, dann erinnerte er sich an etwas anderes. Lux, der mit leuchtend roten Augen die Trägerin der Vertere verfolgte. An jenem Abend hatte er es als ein Konstrukt seines Verstandes abgetan, doch was, wenn er es sich nicht eingebildet hatte? Was, wenn sich Amaria die Gestalten nicht nur einbildete und stattdessen drauf und dran war in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten?

Ohne es zu wollen sprang er mit einem Satz auf die Beine.

Über die plötzliche Bewegung überrascht zog der Mann wieder den Säbel hervor, den er zuvor gegen einen der Tische gelehnt hatte. Als er jedoch erkannte, dass keine Gefahr drohte ließ er ihn wieder sinken.

„Wir müssen nach Nivie, sofort", forderte er den Mann auf, der jedoch nur langsam den Kopf schüttelte.

„Nein, müssen wir nicht."

Von der Bestimmtheit des Mannes irritiert hielt der Junge inne. „Aber Amaria ist dort. Ihre Kinder sind dort. Wollen Sie ihnen nicht helfen, sie zurückholen?"

Der Blick, den er daraufhin von dem Mann bekam ließ sein Herz wieder schrumpfen. „Wenn sie bereits dort sind ist es zu spät."

Nox schluckte. „Nein, es ist nie zu spät. Warum wollen Sie ihnen nicht helfen?"

„Weil ich nicht kann." Der Blick des Mannes trübte sich. „Ich wurde verflucht, verbannt. Ich kann Nivie nie wieder betreten."

„Wie meinen Sie das?"

Wortlos schob er seinen Ärmel nach oben und entblößte ein strahlend leuchtendes Zeichen auf seinem Arm. Eines, welches Nox ebenfalls trug. Welches seit dem Tag, an dem Amaria die Sphäre zerbrochen hatte auf seinem Arm eingebrannt war. Selbst jetzt noch schrie es Verräter, jedes Mal wenn er es anblickte. „Verbannungen sind keine leeren Worte. Sie errichten eine magische Barriere. Als ich ... hierher kam hat man dafür gesorgt, dass sich nicht mehr zurückkommen kann. Weder zu den Prevoir noch zu den Vertere."

Ein trauriges Lächeln legte sich auf sein Gesicht. „Meinst du wirklich ich hätte zugelassen, dass Alexei nach Nivie kommt? Meinst du ich hätte nicht alles daran gesetzt ihn von dort zurückzuholen? Aber nein, es gibt keinen Weg sie zu umgehen. Zu Fuß, zu Pferd oder über ein Portal. Kein Weg hinein. Ich bin erst heute wieder daran gescheitert."

Nox schluckte, an Gabriel Travails Worte zurückdenkend. „Aber ...", stotterte er, seine Gedanken rasten. „Aber ich kann dort noch hin."

Wieder kreuzten sich ihre Blicke. Wieder erschauerte der Junge innerlich bei der Kälte seiner Augen. „Bitte", fuhr er fort. „Bitte, versuchen Sie es wenigstens."

Obwohl alles in ihm zu gefrieren schien hielt er dem Blick stand. Sein Herz pochte wieder stärker, was eine Spur des Schmerzes, der immer noch durch seinen Kopf schoss zurückbrachte, doch er ignorierte es.

So standen sie eine gefühlte Ewigkeit da, der Mann und der Junge, bis der Mann sich mit einem Ächzen des Stuhls wieder in Bewegung setzte. „Gut. Ich werde versuchen dir zu helfen."

Zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt