Als Alexei die nächste Stadt erreichte, war die Sonne noch nicht aufgegangen. Inizio war nicht allzu weit von seinem Heimatdort entfernt, so war er als Kind oft hergekommen und mit seinen Eltern oder Lucie einkaufen gegangen.
Der Gedanke an die vielen glücklichen Momente an diesem Ort versetzten ihm einen leichten Stich, genauso wie der Gedanke an Lucie. Noch war es nicht zu spät für ihn einfach zurückzugehen und so zu tun als wäre alles nicht passiert.
Doch Alexei war nur zu deutlich bewusst, dass es für ihn nicht mehr möglich war. Er konnte nicht zurückgehen, nicht ohne es wenigstens versucht zu haben.
Auf seinem Weg hatte er sich ausgemalt wie er anfangen würde nach ihr zu suchen, denn alles was er hatte waren ein paar Liebesbriefe an seinen Vater, zwei mysteriöse Anhänger und seine Erinnerungen an sie, jedoch schien ihm nichts auch nur ansatzweise dabei zu helfen sie wirklich zu finden.
Bei den ersten Häusern angekommen sah er sich nach Leuten um, die er fragen konnte, ob sie sie gesehen hatten, doch es war noch viel zu früh, sodass die meisten Bewohner noch selig in ihren Betten lagen und schliefen.
Gähnend ging Nox zu einem der Häuser hinüber und setzte sich. Der Fußmarsch war dem Jungen lang vorgekommen, vor allem weil er in der letzten Nacht so gut wie keinen Schlaf bekommen hatte.
Mit dem Vorsatz sich ein wenig auszuruhen lehnte er sich zurück und zog seine Jacke ein wenig höher, doch bevor er noch einmal einen Blick auf die leere Straße werfen konnte, war er schon eingeschlafen.
Alexei erwachte von einem plötzlichen Knall. Verwirrt setzte sich der Junge ruckartig auf und hielt nach der Ursache des Geräusches Ausschau. Auf der anderen Seite der Straße bückte sich gerade eine Frau nach einem Korb mit Einkäufen, die auf dem Boden vor ihr verteilt lagen.
Verschlafen gähnte der Junge kurz und beschloss dann weiterzugehen. Auf seinem Weg begegnete er einigen Personen, die ihn kurz ansahen und dann weitergingen.
Sein erstes Ziel war ein kleines Kräutergeschäft, von dem er wusste, dass seine Mutter oft darin einkaufte. Er war nur ein einziges mal mit ihr dort gewesen, so erinnerte er sich trüb daran, wie er lustlos an den zahlreichen Büscheln die von der Decke hingen gezogen hatte, weil seine Mutter ein scheinbar endloses Gespräch mit der Verkäuferin geführt hatte.
Der Laden der Frau hatte sich kaum verändert. Als er eintrat kam ihm der genau der wohltuende Geruch von Kräutern und Pflanzen entgegen, den er von seinem letzten Besuch noch in Erinnerung hatte. Auch die Frau hinter der Theke schien sich seit ihrem letzten Besuch nicht verändert zu haben. Sie begrüßte ihn mit demselben halb zahnlosen Lächeln.
„Haben sie in letzter Zeit meine Mutter gesehen?", fragte er freundlich. „Sie ist ungefähr-" Er zeigte mit der Hand in die Luft. „So groß, hat lange blonde Haare und blaue Augen. Ihr Name ist Mary."
Die Frau blickte ihn einen Augenblick an und überlegte. „Ja, Marianne", sagte sie dann nach einer Weile, „Sie war oft hier, aber ich habe sie in den letzter Zeit nicht gesehen nein."
Alexei seufzte innerlich.
„Warum fragst du?", erkundigte sie sich.
Der Junge schluckte einmal. „Nun, sie ist verschwunden."
Die Frau schenkte ihm einen mitleidigen Blick. „Das tut mir leid. Sie war immer sehr nett zu mir wenn sie gekommen ist." Sie lächelte.
Alexei lächelte zurück, obwohl ihm gar nicht danach zumute war.
Die Sonne stand schon wieder tief am Himmel, als er erneut die Straße hinabging und überlegte, wo er noch nicht gewesen war. Keiner hatte auch nur ansatzweise einen Hinweis darauf gehabt, wo sich seine Mutter aufhalten könnte.
Seufzend rieb er sich die Augen und machte sich auf den Weg zurück zum Hauptplatz des Dorfes. Lustlos setzte er sich auf den Brunnen und sah sich um. Vielleicht war seine Mutter auch gar nicht hier gewesen. Für ihn hätte es am meisten Sinn ergeben, Inizio war nicht groß, aber um einiges größer als sein Heimatdorf.
Ein Stück von ihm entfernt fiel ihm ein Mann auf, der ihm seltsam bekannt vorkam. Sehr bekannt. Alexei zuckte zusammen als sein Gesprächspartner einen Arm hob, einen knochigen Finger in seine Richtung deutend, der andere Mann sich daraufhin umwandte und er ihn erkannte. Es war sein Vater.
Am liebsten wäre er aufgestanden und weggerannt, doch es war zu spät denn sein Vater kam schon wütend mit großen Schritten auf ihn zu. „Alexei", rief er seinen Namen, der ihn traf wie eine Ohrfeige. Instinktiv sprang er auf.
Unsicher wich er noch einige Schritte zurück, doch als der Mann ihn erreichte, packte er ihn am Handgelenk und hielt ihn eine Armbreite von ihm weg. „Was hast du dir dabei gedacht?", fauchte er ihn an und schüttelte seinen Unterarm.
„Du hättest nichts getan", keifte er zurück und versuchte seine Hand aus dem festen Griff des Mannes zu winden.
Doch seine Versuche blieben vergebens, der Mann packte ihn nur noch fester, sodass sein Arm unangenehm zu schmerzen begann. „Das gibt dir noch lange nicht das Recht einfach wegzulaufen!"
Alexei versuchte die Worte des Mannes an sich abprallen zu lassen, jedoch lösten sie trotz aller Wut ein schlechtes Gewissen in ihm aus.
„Du kommst sofort wieder mit nach Hause", fuhr er erbarmungslos fort und zog ihn ein Stück den Platz entlang.
„Nein", rief Alexei und stemmte sich gegen ihn. Zwar war der Mann noch ein gutes Stück größer als er, jedoch schaffte der Junge es trotzdem, dass er stehenblieb. „Ich werde nicht mitkommen. Ich werde nicht weiterhin untätig rumsitzen, siehst du nicht, wie schlecht es Lucie damit geht?"
Als der Name seiner Tochter fiel lockerte sich der Griff des Mannes und Alexei riss sich los.
Für einen Moment starrten sie sich nur fassungslos an. „Ich werde sie finden", erklärte er ihm entschlossen, doch sein Gegenüber schüttelte nur heftig den Kopf.
„Nein", sagte er bestimmt. „Das kannst du nicht."
Der Ton mit dem der Mann die Worte sagte, irritierte Alexei. Offenbar meinte es wirklich ernst, denn in ihnen war nicht nur Wut, sondern auch Verzweiflung und Bitterkeit zu erkennen.
„Warum?", erwiderte er verwundert; die Verwunderung dämpfte seine anderen Gefühle.
Der Mann streckte erneut die Hand nach seinem Arm aus, doch Alexei wich zurück. „Bitte komm nach Hause."
Der Junge schluckte und schüttelte dann wieder den Kopf. „Nein."
Der Arm seines Gegenübers war immer noch nach ihm ausgestreckt, doch er würde sie nicht ergreifen, er konnte nicht.
„Bitte", wiederholte der Mann und Alexei bemerkte überrascht den flehenden Unterton in seiner Stimme.
Für einen Augenblick starrten sie sich noch an, dann gab auch der Sohn seine abweisende Stellung auf löste seine verspannte Haltung. „Wo ist sie, Dad?", fragte er ihn und in den Augen des Mannes spiegelte sich für einen Augenblick ein Funken Trauer wieder, dann wurden sie wieder hart und undurchdringlich.
„Bitte, komm nach Hause", wiederholte er.
Für einen Moment zögerteder Junge noch, dann ergriff er schließlich doch die Hand seines Vaters und siegingen gemeinsam weg vom Brunnen, zurück nach Hause.
Nächstes Update: Donnerstag, 11.10.2018
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Zwischen Licht und Schatten
FantasyDie Welt ist gespalten zwischen vier Namen, vier Familien: Vertere, Travail, Prevoir und Pensee. Vier Familien, die das Land unter sich aufteilen und die Macht für sich beanspruchen. Weit davon entfernt wächst Alexei mit seiner Familie in einem kle...