Kapitel 11 - Ezra

6 0 0
                                    

Einen Monat. Sie hatte schon einen Monat geschafft, von ihrer Familie fernzubleiben. Der Gedanke daran tröstete sie, auch wenn es kaum Hoffnung darauf gab, dass noch ein weiterer vergehen würde. Jeden Moment erwartete sie, dass es an ihre Tür klopfte und ihre Schwester, ihr Bruder oder gar ihr Vater hereinstürmte.

Ezra seufzte und legte ihren Kopf auf das aufgeschlagene Buch vor ihr. Wenn sie es sich eingestand wusste sie nicht einmal genau wonach sie suchte, trotzdem hatte sie stundenlang in diesem alten Wälzer gelesen in der Hoffnung etwas zu finden, was ihr in irgendeiner Art helfen konnte. Doch nun ging die Sonne schon wieder unter, ein weiterer Tag war verstrichen und sie war ihrem Ziel kein Stück näher als zuvor.

Gähnend drehte sie ihren Kopf zur Seite und blickte aus dem Fenster, der untergehenden Sonne entgegen. Wenn es dunkel wurde, würden die Straßen wieder erwachen. Das war das, was sie an dieser Stadt am meisten faszinierte. Die Bewohner hier schienen so mit sich beschäftigt zu sein, dass sie die ganze Außenwelt um sich vergaßen, obwohl Raviar unter dem Einfluss der ihrer Familie stand. Hier war beinahe zu einfach gewesen neu anzufangen, denn nachts schien es hier beinahe so, als gäbe es die Häuser nicht, obwohl das Anwesen ihres Vaters nur einen nicht allzu langen Fußmarsch entfernt war.

Zuerst war sie sich nicht sicher gewesen, ob sie hierbleiben sollte, so nah an ihrem Zuhause, wo sie doch am liebsten so viel Platz zwischen sich und ihre Familie bringen wollte wie möglich, doch dann hatte sie zum ersten Mal die Sonne untergehen sehen und einen Hauch der Mentalität gespürt, die nachts die Straßen füllte. Zweifellos bereiteten die Menschen ihrem Vater einige Probleme.

Und wenn die Sonne verschwand, erhellten sich nicht nur die Laternen, sondern auch die zahllosen Stände des Marktes, die Fassaden der Häuser und die Magier kamen aus ihren Löchern. Eines Tages hatte sie Elias, einen Jungen hier, gefragt warum und er hatte ihr erklärt, dass die Nacht für sie Freiheit bedeutete, denn in der Dunkelheit konnten sie schon immer, auch als sie noch mehr unter dem Einfluss von anderen gestanden hatten, tun was sie wollten.

Beim Gedanken an die Gassen voller Menschen und die Stände des Marktes musste sie lächeln. Diese Welt war so anderes, so neu für sie, sodass sie sich nur zu leicht darin verlieren konnte. Vielleicht sollte sie heute Nacht wieder auf den Markt gehen.

Gerade als sie aufgestanden war spürte sie jedoch plötzlich ein Kribbeln auf ihrer Haut und ein Ziehen in ihrer Magengegend. Ezra schluckte schwer und ballte instinktiv eine Hand zur Faust. Jemand rief nach ihr.

Obwohl sich nichts Erkennbares im Raum verändert hatte pochte ihr Herz augenblicklich schneller und ließ Panik in ihr aufsteigen. Hastig sah sie sich im Raum um und als sie nichts erkannte wanderte ihr Blick nochmals über die bekannten Möbelstücke, dieses Mal zwang sie sich mit aller Kraft dazu Ruhe zu bewahren. Immer noch niemand.

Das Mädchen zögerte kurz, ihre Gedanken schienen mehr und mehr Fahrt aufzunehmen und sie rannte zur Tür wo sie in den leeren Gang spähte. Erleichtert atmete sie tief durch, dann schloss sie unbeholfen die Holztür und drehte den Schlüssel im Schloss um. Wieder niemand.

Wachsam wanderte ihr Blick durch den Raum, immer wieder, doch die Sekunden dehnten sich zu Minuten, sodass sie sich zu fragen begann, ob sie sich nicht nur alles eingebildet hatte. Trotzdem blieb sie stehen, beinahe direkt bei der Tür, sodass sie den gesamten Raum im Blick hatte.

Tatsächlich dauerte es länger als ihre Geduld standhielt, langsam wurde erst das flaue Gefühl in ihrem Magen immer stärker. Dann, eine gefühlte Ewigkeit später, schien sich die Luft im Zentrum des Raums zu verdichten. Als käme durch das geschlossene Fenster eine Brise, schien es den Staub auf den Regalen aufzuwirbeln und eine durscheinende Gestalt erschien. Erst war sie noch sehr blass, dann schien sie sich immer mehr an Farbe zu gewinnen, doch die Erscheinung blieb trüb, beinahe als könnte ein einziger Windstoß genügen sie von dannen zu blasen. Doch fester würde sie nicht werden, denn Ezra wusste, dass es sich nur um ein Abbild handelte.

Zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt