Kapitel 16 - Ezra

5 0 0
                                    


Manchmal erwachen die größten Kräfte in der dunkelsten Finsternis. Ezra musste bei dem Gedanken an die Worte ihrer Mutter leicht lächeln. Vielleicht hatten die anderen doch recht, vielleicht war sie eine hoffnungslose Träumerin gewesen.

Doch trotzdem fand sie Wahrheit in ihren Worten. Wahrscheinlich hatte sie es anderes gemeint, doch ihr Satz beschrieb nur zu gut das Erwachen der Stadt in der sie sich gerade befand. Sie hatte sich bereits in der Dämmerung aufgemacht und sich einen Platz hoch über den Fenstern gesucht, denn sie mochte die Dächer von Raviar, besonders bei Einbruch der Nacht. Von hier oben aus konnte man den ganzen Hauptplatz, Markt und am Horizont sogar das Meer sehen und umso dunkler die Nacht wurde, desto mehr Lichter und Menschen erschienen am Boden.

Diese Stadt war beinahe wie ein Lebewesen, das tagsüber ruhte. Ihrer Mutter hätte es hier sicher gefallen. „Ich werde dich finden", murmelte das Mädchen in sich hinein.

Ja. Sie würde sie finden, oder wenigstens versuchen sie zu finden, doch gerade sah es noch sehr düster aus. Wieder hatte sie den ganzen Tag damit verbracht in verschiedenen Büchern zu lesen oder mit anderen Leuten gesprochen. Dabei hatte sie schon mit allen Personen gesprochen die etwas wissen konnten. Alle. Außer die vom Haus Prevoir.

Die meisten Menschen wussten nicht, dass ihre Mutter eigentlich aus einem der anderen Häuser stammte, selbst ein Großteil des Haus Vertere wusste nicht bescheid. Ihre Eltern hatten vor langer Zeit beschlossen es nicht öffentlich zu machen. Doch geheim halten konnten sie es auch nicht vor allen.

Als kleines Kind hatte man ihr stets eingeschärft mit niemandem darüber zu sprechen und erst viel später hatte sie verstanden warum. Ihr Vater wollte eine Frage vermeiden: Warum verstanden sich die Häuser Prevoir und Vertere dann nicht?

Die Antwort darauf war einfach. Die Eltern ihrer Mutter, ihre Großeltern hatten sie verstoßen. Sie weggeschickt und jeglichen Kontakt abgeschnitten, beinahe als habe sie nie existiert. Seitdem herrschte auch zwischen den Häusern drückende Stille.

Ezra stützte ihren Kopf auf den Arm und blickte dem dämmernden Himmel entgegen. Sie war am Leben. Ihr ganzes Leben hatte sie gedacht, ihre Mutter sei tot, sie hatte sie begraben, auch wenn man sie nie gefunden hatte. Und doch hatte sie sie gesehen, nur einige Tage, bevor sie ihre Reise begonnen hatte.

Und nun wiederholte sich der Tag an dem sie dachte ihre Mutter verloren zu haben immerzu in ihrem Kopf, genauso wie die Nacht in dem sie ihr Zuhause verlassen hatte.

Ein Gesicht in der Menge, mehr hatte sie nicht von ihr erhaschen können, bevor sie wieder verschwunden war. Doch sie war sich sicher. Sie konnte sich nicht geirrt haben. Sie durfte sich nicht geirrt haben ...

„Ich hatte mich schon gefragt auf welchem Haus ich dich dieses Mal finde", rief eine Stimme hinter ihr und riss Ezra aus ihren Gedanken.

Erschrocken fuhr sie herum und erblickte Elias, der lächelnd auf sie zukam. „Ach, du bist es", erwiderte sie und lächelte ihn an.

Der Junge kam ihr näher und setzte sich dann neben sie auf die Dachkante, wobei er ein gutes Stück Platz zwischen ihnen ließ.

„Es ist schön hier oben oder?", begann das Mädchen nachdenklich und zog ihre Beine an. Sie war froh über die paar Zentimeter.

Elias lächelte. „Ja, da hast du recht."

Für eine Weile saßen sie nur nebeneinander da, während Ezra angespannt darauf wartete, dass er ihr eröffnete weshalb er gekommen war.

„Weißt du", begann er schließlich nachdenklich, „ich kann verstehen, warum du immer herkommst, von hier aus hat man wirklich eine tolle Aussicht."

Zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt