Kapitel 87 - Amaria

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Ein Windstoß zerrte an ihr und zerzauste ihre Haare. Es war kalt, so kalt, dass ihr Atem schon beinahe kleine Wölkchen in der Luft bildete. Zitternd stand sie vor dem innersten Tor und starrte auf die Häuser, die ihr hell erleuchtet und warm entgegen lächelten.

Sie jedoch blieb außen vor, stand weiterhin auf dem Pflaster vor dem Tor und wartete. Wartete auf Lumen, der meinte er würde bald wiederkommen und ihr Bescheid geben. Wartete darauf, dass endlich etwas passierte.

Unsicher biss sich Amaria auf die Lippe. Nun war sie also hier ohne mit dem Mann geredet zu haben; ohne auch nur seinen Namen erfahren zu haben. Zugegebenermaßen; sie hatte ihn nicht mehr oft gesehen, und wenn dann mit anderen Prevoir, die sie nicht kannte. Jetzt war es zu spät.

Es musste nicht einmal eine halbe Stunde her sein, da war Lumen plötzlich neben ihr erschienen und hatte gemeint die Prevoir hätten endlich beschlossen nach Nivie aufzubrechen. Also war sie ihm hierher gefolgt. Er hatte gesagt er würde ihr alles erzählen, was er von ihrem Vater wusste. Er würde den Anderen nochmals danach fragen und es ihr dann erzählen, also vertraute sie ihm.

Offenbar war er ja der Einzige, dem sie noch vertrauen konnte ... Ein Schnauben kam über ihre Lippen als sie an Nox dachte. Sie war zu spät hergekommen, aber sie hatte sich anfangs geweigert Lumen zu glauben. Lumen, der ihr berichtet hatte, wie er davongelaufen war. Lumen, der ihr erklärt hatte, dass er ohne ein Wort verschwunden war.

Doch er hatte recht behalten. Er war verschwunden. Ohne ein Wort.

Sie wusste nicht an was sie eher glauben sollte: daran, dass er sie wirklich einfach verlassen hatte oder daran, dass sie ihn bei den Prevoir zurückgelassen hatte. Aber warum sollte Lumen sie so schamlos anlügen?

Als sie ein erneutes Stechen in der Magengegend verspürte hätte sie am liebsten nach etwas getreten, doch sie hielt sich zurück. Er hatte auch nicht an sie gedacht, warum sollte sie also nun auch nur einen Gedanken an ihn verschwenden?

Sich dazu zwingend wieder an die Häuser zu denken, blickte sie auf zu dem Gebäude, welches sich im Zentrum der Stadt merklich von den Anderen abhob. Lumen meinte er würde kommen, wenn er etwas Interessantes erfahren hatte. Was sie hier konkret tun konnte wusste sie nicht. Doch sie vertraute ihm. Sie wusste, dass er einen Plan hatte.

Trotzdem ... ihre Finger schlossen sich um die scharfe Klinge, die Lumen sie angewiesen hatte mitzunehmen. Aus der Ferne betrachtet war es ein schöner Gegenstand, glänzend und gepflegt, wie er an der Wand der Prevoir verweilt hatte; doch nun, da sie ihn bei sich trug ... Auch Nox hatte sich offenbar daran bedient, zumindest war die andere Seite der Wand leer gewesen.

Sie dachte zurück an das letzte Mal, als sie einen vergleichbaren Gegenstand in der Hand gehalten hatte. Ihr Lehrer bei den Travail hatte versucht ihnen beizubringen damit umzugehen, doch es hatte ihr nie Freude bereitet oder Spaß gemacht.

Immer noch den Blick auf das Haus in nicht allzu weiter Ferne gerichtet zuckte sie zusammen, als plötzlich eine Gestalt auf sie zukam.

„Amaria", rief Lumen aufgeregt und bremste kurz vor ihr ab.

Das Mädchen erwiderte die Begrüßung und ließ sich von seiner Aufregung anstecken. Sie hatte ihn noch nie so angespannt gesehen.

Ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ich weiß jetzt was das Problem der Vertere ist", eröffnete er erfreut und strahlte. „Ich weiß warum sie weggelaufen ist; die Trägerin. Sie hat offenbar ihrem Vater die Kräfte genommen."

Von seiner Überschwänglichkeit erschlagen zögerte sie bevor sie antwortete. „Was? Warum?"

Der Andere zuckte mit den Achseln. „Ist das denn wichtig? Amaria, siehst du nicht was das bedeutet?"

Unsicher schüttelt sie den Kopf. „Ich wusste nicht, dass ..."

„Sie ist die letzte Amaria!", rief er so laut, dass sie zusammenzuckte. „Sie ist die letzte Trägerin des Hauses. Hätte sie ihren Vater nicht so verstümmelt, dann wären sie noch zu zweit, aber so ist es nur noch sie."

Amaria stutzte, immer noch damit beschäftigt seine Worte richtig zu verstehen. „Und was willst du damit sagen?"

Lumens Blick wurde eindringlicher und er trat noch ein Stück näher. „Dass nur noch sie uns im Weg steht."

Obwohl sie bereits eine Gänsehaut hatte kroch ihr ein eiskaltes Schaudern über den Rücken. Sie hatte verstanden, was er damit meinte, nun musste sie jedoch noch entscheiden ob sie es gut fand oder nicht ...

Das Lächeln des Anderen ging ein wenig zurück. „Du zweifelst noch, nicht wahr?"

Amaria nickte, Lumen folgte ihrer Bewegung. „Ja, das ist verständlich. Aber siehst du nicht, was das für eine Chance ist? Wenn sie weg wäre könnte sie keinen anderen Personen mehr weh tun. Sie ist bereits eine Mörderin, vergiss das nicht."

Auf seine Worte hin schossen ihr wieder Bilder von Lux vor ihr inneres Auge; Elias Vater, den sie nicht gerettet hatte. Elias Vater, bei dem sie zugesehen hatte, wie die Trägerin der Vertere ihn ermordet hatte. Und selbst dies sollte nicht das erste Mal sein. Ohne es wirklich zu wollen schloss sich ihre Hand um das kalte Metall auf ihrem Rücken.

„Sie hat es verdient", erklärte Lumen weiter, seine Augen blitzten in der Dunkelheit, beinahe schien es als würden sie leuchten. „Du vertraust mir doch, oder?"

Amaria nickte in Gedanken versunken, den Blick wieder auf das Haus in der Ferne gerichtet. Es war ein weiterer Schritt. Ein weiterer Schritt in eine Richtung die sie nicht zurückgehen konnte. Bei der es nur einen einzigen Weg gab. Gleichwohl, was blieb ihr noch anderes?

Aus dem Augenwinkel sah sie wie Lumen ihre Hand nahm und sie nach vorne zog. Folgsam setzte sie erst einen, dann zwei Schritte, bevor sie in einen Sprint fiel, der sie näher zu dem Haus im Zentrum brachte. Seltsam.

Ein schmales Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Beinahe angekommen.

Zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt