Sie kannte den Weg besser als jeden anderen. Wie oft war sie ihn schon diese Gänge entlang gehuscht ohne bemerkt zu werden? Wie oft war sie schon nachts umhergeschlichen? Gewiss öfter als sie zählen konnte.
Doch auf keinem ihrer Ausflüge war sie bisher so angespannt gewesen. Keiner ihrer Ausflüge war bisher so wichtig gewesen.
Mit einem Blick nach hinten zog sie Alexei an der Bibliothek vorbei in das kleine Nachbarzimmer, wobei Zimmer wohl übertrieben war. Die einzigen Möbelstücke die den Raum schmückten waren ein eingestaubter Tisch, ein Stuhl und ein Bücherregal in das die Bücher gestopft worden waren, die in der Bibliothek keinen Platz mehr hatten, oder die ihrer Tante gehörten.
Nachdem Alexei eingetreten war schloss sie achtsam die Tür und wies ihn dazu an still zu sein.
Seltsamerweise ließ die Aufgabe das Mädchen wieder ruhiger werden. Die Angst und das taube Gefühl waren nicht verschwunden, trotzdem war neues Leben in ihr erwacht. Beinahe fühlte es sich wieder an, als sei sie ein kleines Kind, das ihren Vater durch ein Guckloch in der Wand ausspionierte, weil ihm langweilig war.
Jedoch verschwanden die positiven Gefühle schneller wieder als sie erwartet hatte, denn sie hatte noch nicht einmal die Arme gehoben, da sprang die Tür auf und ihr Vater stürmte herein.
Wie ein verletztes Tier sprang sie ein Stück zurück und erstarrte, als sie bemerkte, dass er ihr gefährlich nahe kam. „Was hast du getan?", donnerte er und sie zuckte zurück.
Als sie nicht antwortete wiederholte er die Frage, wieder wich sie zurück, dieses Mal, bis sie an die Wand stieß, der Mann jedoch schloss zu ihr auf. Verzweifelt starrte sie ihm entgegen und rang um Worte. Doch welche? Was konnte sie schon sagen, was ihn zufriedenstellen würde?
„Es ist meine Schuld", kam es plötzlich von einer anderen Person und Ezra erkannte Alexeis leise Stimme.
Wie ein schnaubendes Tier wandte er sich ab und funkelte nun Alexei entgegen.
Erst als sie ausatmete bemerkte sie, dass sie die Luft die ganze Zeit angehalten hatte. Sie schluckte und blickte zu ihm auf. Selbst jetzt, da sie ihn so lange Zeit nicht gesehen hatte könnte sie auch blind jede einzelne Falte aufzählen.
Trotzdem. Seine Haare schienen noch ergrauter, als sie sie kannte. Sein Gesicht noch faltiger, seine Augenringe noch breiter. Und er war blass.
Bestünde ihr Inneres nicht immer noch aus einem massiven Eisblock hätte sie vielleicht Mitleid mit ihm gehabt, nun jedoch konnte sie ihn nur anstarren. Stumm. Erstarrt.
„Sie sind wegen meiner Schwester hier."
Ezra bemerkte, wie Alexei ihr einen Blick zuwarf. Sie konnte ihm gar nicht sagen, wie dankbar sie ihm in diesem Augenblick war. Gleichwohl fragte sie sich ob seine Entscheidung die richtige war. Wollte er ihm wirklich von Lucie erzählen?
„Sie ist eine Trägerin ihres Hauses. Zumindest vermuten wir das."
Etwas Anderes blitzte in den kalten, braunen Augen auf. Trauer. Trauer über den Betrug eines geliebten. Nun hatte also auch er erstmals einen Beweis für den Verrat ihrer Mutter vor sich. Seiner Frau.
„Und du bist der Junge von dem Ana erzählt hat. Alexis."
„Mein Name ist Alexei."
Der Funken wurde stärker.
„Und deine Schwester ist wo?"
Alexei zögerte. Die Augen des Mannes funkelten bedrohlich. „Sie ist auch hier", gestand der Junge, der unter den Blick des Mannes immer kleiner zu werden schien. „Ezra hat sie hochgeschickt."
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Zwischen Licht und Schatten
FantasyDie Welt ist gespalten zwischen vier Namen, vier Familien: Vertere, Travail, Prevoir und Pensee. Vier Familien, die das Land unter sich aufteilen und die Macht für sich beanspruchen. Weit davon entfernt wächst Alexei mit seiner Familie in einem kle...