Kapitel 94 - Ezra

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Selbst noch einige Zeit später war sie unfähig sich zu beruhigen.

Gleich nachdem sie wieder losgelaufen war, war sie in eins der Häuser geflüchtet; eines der alten, die den Legenden nach schon vor Nivie hier gestanden waren. Das, in dem sie gerade war, war ein altes Anwesen, welches heute als Schule benutzt wurde.

Auch sie und ihre Geschwister waren hergekommen um ihren Abschluss zu machen; doch obwohl es nur ein paar Jahre her war kam es ihr heute wie eine Ewigkeit vor. Eigentlich hatte sie diesen Ort nie gemocht. Für sie war es immer ein Platz an dem sie den anderen Menschen nicht aus dem Weg gehen konnte. Ein Ort an dem sie schamlos von allen angestarrt werden konnte, ohne dass sie etwas sagen konnte.

Vielleicht war sie deshalb wieder hier.

Schon zu den alten Zeiten, als die Stadt noch neu war hatte man diesen Ort gemieden. Denn hier auf dem Speicher standen allerlei Gegenstände der Vorbesitzer, manchmal zehn, manchmal fünfzig Jahre alt; manchmal älter. Niemand wusste woher sie kamen.

Die Menschen in Nivie erzählten sich, dass sie verflucht waren und dass Menschen verschwanden, wenn sie zu lange hier blieben. Manche hielten die Geschichten nur für Märchen, die junge Kinder in die Schranken weisen sollten. Ezra hielt sie für interessant; auch wenn sie nicht daran glaubte. Vielleicht lag es an ihrem Vater, der immer nur darüber gelacht hatte. Oder an ihrer Schwester, die alles zu wörtlich genommen hatte.

Der Gedanke an ihre Familie ließ ihr Herz wieder schwer werden. Sie wusste, dass sie mit Sicherheit noch nach ihr suchten. Genauso wie die Rotäugige. Mit einem lauten Seufzer ließ sie den Kopf gehen die Wand sinken und schloss die Augen.

Für einen Augenblick gab sie sich der Stille hin und sog sie in sich auf. Einfach ein Moment, in dem sie nichts mehr tun musste. Ein Moment in dem sie einfach nur dasitzen und alles vergessen konnte.

Ihre Gedanken wanderten zu Alexei und Schuldgefühle breiteten sich in ihr aus. Sie wollte ihn nicht hier allein lassen. Gleichwohl, es wäre wohl genauso gekommen, wäre er allein her gekommen. Vielleicht sogar noch schlechter ... Nun war es an ihm den Anderen zu erklären was passiert war.

Ein trauriges Lächeln legte sich über ihr Gesicht. Nach Henry war er der Einzige gewesen, bei dem sie je das Gefühl gehabt hatte, dass er sie wirklich verstanden hatte. Dass er sie mochte, einfach für das wer sie war. Keine Trägerin oder dergleichen. Einfach nur sie selbst.

Der Gedanke an Henry ließ die noch nicht vollkommen verheilte Wunde in ihrem Herzen wieder aufreißen und sie spürte, wie Tränen aus ihren Augen quollen und über ihre Wangen liefen.

Nun, da sie hier allein im Dunkeln saß, nicht wissend was sie tun sollte und ob es überhaupt noch einen Platz für sie gab, fühlte es sich an als wäre sie wieder gerade vom Anwesen der Travail zurückgekehrt. Es war so lange her. Und doch schien es als hätten sie sich gestern erst getroffen.

Ein Schluchzen erschütterte die Stille und sie vergrub das Gesicht in ihren Beinen. Henry hätte gewusst, was zu tun war. Henry wäre jetzt gar nicht in der Situation in der sie sich gerade befand. Henry hätte eher ein Recht darauf hier zu sein als sie.

Die Zeit strich an ihr vorüber, ohne dass sie es wirklich bemerkte. Als nach einer Weile ihre Tränen langsam abebbten blieb sie in der Position, die sie eingenommen hatte und ließ ihre Gedanken wandern. Seltsamerweise schien es gleichsam heilsam und deprimierend dort zu setzten und zu warten, gleichwohl wusste sie, dass sie sich nicht bewegen würde. Dazu fehlte ihr die Kraft.

Mit einem Seufzen vergrub sie wieder ihr Gesicht in ihren Beinen. Sie würde sich bewegen müssen. Irgendwann würde sie sich bewegen müssen.

Wie eine Antwort auf ihre Gedanken hörte sie ein Flüstern in der Ferne. Sich nicht sicher, ob sie sich nicht verhört hatte sah sie sich um, konnte jedoch nichts erblicken. „Was zum", murmelte sie laut, verstummte aber wieder, als sie bemerkte wie laut ihre Stimme in der Stille klang. Nun bildete sie sich auch noch Stimmen ein. Sie schnaubte über ihre eigene Dummheit.

Doch gerade als sie sich aufrichten wollte hörte sie es wieder, dieses Mal lauter.

Verwirrt stand sie auf, was um sie herum kleine Staubwolken aufwirbelte und den Boden knarzen ließ. Langsam folgte sie dem Flüstern, das im hinteren Teil des Raums immer lauter zu werden schien. Was die Stimme sagte konnte sie immer noch nicht verstehen.

Als sie an einem Spiegel vorbei in den hinteren Teil des Raums wanderte wurde es wieder leiser. Verwirrt wandte sie sich zu dem Spiegel um. In ihrem Abbild konnte sie erkennen, dass ihre Augen immer noch blutunterlaufen und angeschwollen waren vom vielen weinen. Für einen Augenblick starrte sie sich selbst entgegen, dann jedoch verschwand das Bild von ihr und ein Anderes erschien.

Erschrocken sog sie scharf Luft ein und wich ein Stück zurück, doch abseits von dem was sie sehen konnte hatte sich im Raum nichts verändert. Statt der kahlen Wand hinter sich sah sie nun einen anderen Raum, oder zumindest Ausschnitte davon. Neben einem kleinen Tisch war ein Fenster zu sehen, dass ihr den Blick auf die dunklen Umrisse einer Stadt ermöglichte. Eine Stadt, die sicher nicht Nivie war.

Die Stimme war verstummt.

Sich immer noch nicht sicher, ob sie sich das Ganze nicht einbildete sah sie sich ein weiteres Mal im Raum um, nur um erneut festzustellen, dass sie allein war. Völlig allein.

Nachdenklich starrte sie auf die glatte Oberfläche, die sie von dem anderen Ort trennte, dann wie aus dem Nichts sah sie einen Mann die Straße hinab laufen. Interessiert trat sie einen Schritt näher. Es war also kein Bild.

Ihre Gedanken wanderten zurück zum Haus der Wächterin. Genauer gesagt zu dem Bild in das man sie verbannt hatte. Konnte es sein, dass sie hier einen ähnlichen Gegenstand vor sich hatte?

Ezra schluckte, eine andere Idee schien sich in ihrem Kopf einzunisten wie ein unheilbarer Virus. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, dann steckte sie eine Hand nach der glatten Oberfläche aus. Das was ihre Finger berührten war weich, beinahe wie Wasser schloss es sich um ihre Hand.

Langsam trat sie weiter nach vorn, immer weiter hinein in die seltsame Masse, die Wellen schlug und das Bild verzerrte, sodass sie nichts mehr erkennen konnte. Verschwommen doch nicht undurchdringlich.

Mit einem Lächeln trat sie weiter nach vorn, dann, als ihr Arm bereits bis zu ihrem Ellenbogen im Spiegel steckte sprang sie ein Stück vorwärts. Weg von Nivie und ihrer Familie. Weg von ihren Sorgen hinein ins Unbekannte.

Zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt