74 - Irgendwo zwischen Wahrheit und Lüge

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 „Franco!" Phils Ausdruck wirkt angespannt.
Verwirrt und unsicher, wie ich das jetzt interpretieren soll, huscht mein Blick zwischen den beiden hin und her.
„Ich habe dir doch..."
„Du hast dieses, du hast jenes, du hast alles. Phil, ich kann eure ganzen Ratschläge langsam nicht mehr hören." Papa schließt seine Augen und atmet tief durch. „Es wird Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen", flüstert er dann mit brüchiger Stimme.

Langsam sinkt meine Hand mit der Kulturtasche. Und noch immer schüttelt Phil den Kopf.
„Was auch immer du jetzt machen möchtest, ich würde es lassen", sagt er ruhig und doch so angespannt. „Wir haben uns immer zurückgehalten und dich machen lassen, schließlich bist du ihr Vater. Also liegt es jetzt auch in deiner Verantwortung, was du jetzt machst." Sein Blick trifft meinen und ich kann nicht erkennen, was er mir sagen will. Diese Möglichkeit wird mir verwehrt, als er umdreht und in die Küche geht.

In diesen Sekunden ziehen Jahre an mir vorbei. Immer wieder wurde mir gesagt, dass meine Mutter abgehauen ist. Einen Grund gab es nie, gekümmert hat es mich auch nicht wirklich, schließlich habe ich keinerlei Verbindung oder Erinnerung.
Zu plötzlich kam mir dieses Gespräch. Warum musste ich auch genau in diesem Moment nach unten gehen? Ich will das nicht. Ich will fliehen und die Wahrheit erst gar nicht hören.
Zur Unwissenheit mischt sich Angst. Ich kann mir nicht erklären, wovor ich Angst habe.
Angst vor der Wahrheit, die mein Leben sowieso nicht ändern wird?
Angst vor der Erkenntnis, von meiner eigenen Familie ein Leben lang belogen worden zu sein?
Es wird Letzteres sein, was mir Angst macht. Doch ändern wird es sowieso nichts mehr.

Ich schlucke, doch der Kloß im Hals bleibt. „Möchtest du mir sagen, dass sie..." Ich kann es nicht aussprechen. Auch wenn es im Endeffekt nichts ändert, ändert es alles für mich.
Die Umgebung wirkt so laut, obwohl nur das Geräusch der Kaffeemaschine aus der Küche leise zu uns durchkommt.
Vom Sommer ist nichts mehr zu spüren, Gänsehaut zieht sich über meinen ganzen Körper.

Papa sagt nichts, wartet darauf, dass ich ausrede.
Sein Schweigen dröhnt in meinen Ohren.
„Ist sie...", versuche ich einen neuen Start. Ohne Erfolg.
Sein Blick? Unsicher, verletzt. Es ist kein Nicken, doch auch kein Kopfschütteln. Der Schmerz ist ihm ins Gesicht geschrieben.
Dennoch reicht mir das als Antwort.

Es gibt gar keine Mutter mehr. In der Praxis gab es sie noch nie für mich, doch auch in der Theorie existiert sie anscheinend schon lange nicht mehr.
Und das ist wohl der wahre Grund, weshalb ich ohne Mutter aufgewachsen bin.
Vielen Dank für diese Ehrlichkeit.

Es war Paula, die mich aus der Situation gerettet hat. Sie wurde ungeduldig, weil sie den Koffer fertig gepackt haben wollte.
Papa stand regungslos im Türrahmen, als ich überfordert nach oben gelaufen bin. Wie lang er dort stand, kann ich nicht sagen. Nur vermuten, dass es sich um eine Weile gehandelt hat.

„Freust du dich denn nicht?" Alex stupst mich von der Seite an.
Ich drehe mich verwirrt zu ihm. „Mh? Hast du was gesagt?"
Er seufzt tief. „Was ist gestern zu Hause passiert, als ich arbeiten war? Der Haussegen hängt gewaltig schief und keiner will so wirklich mit mir reden. Also Paula würde es, nur weiß sie es selber nicht."
Mein Kramen nach einer passenden Ausrede kann lang dauern. Anni kommt mir da recht, die gerade aus dem Auto ihrer Mutter steigt. „Ich bin dann mal weg, wir sehen uns später." Mit gesenktem Kopf und großen Schritten bringe ich eine sichere Entfernung zwischen Alex und mich. Er hat mit der Situation wenig zu tun, trotz dessen möchte ich nicht darüber reden. Noch nicht.

Anni hat es irgendwie geschafft, meine Laune während der Fahrt aufzuhellen.
Lautete ihre Begrüßung noch ‚Du ziehst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter', wischt sie sich nun Tränen aus den Augenwinkeln.
„Das war wirklich zu amüsant", quiekt sie zwischen zwei Lachern. Auch ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen und scheine wenigstens für kurze Zeit die letzten Stunden zu vergessen.
Alex, der weiter vorne im Bus neben meiner Lehrerin sitzt, dreht sich um und wirft mir einen fragenden Blick mit seiner typisch hochgezogenen Augenbraue zu.
Alles gut forme ich lautlos mit den Lippen und kassiere dafür ein zufriedenes Lächeln seinerseits.
Wenigstens scheint er nun beruhigter zu sein.

„Mmmmh, dieser Geruch." Anni rümpft ihre Nase. „Gewöhnungsbedürftig." Argwöhnisch scannt sie das gesamte Zimmer einmal grob ab.
„Ich weiß, dass du das nicht so mit solchen Unterkünften hast", bemerke ich schmunzelnd. „Aber es riecht hier einfach nur alt. Und mit ein bisschen Lüften ist der Geruch schnell abgeschwächt."
Das lässt sie sich nicht zweimal sagen und reißt das große Fenster auf, welches gegenüber der Tür ist.
Ich muss Anni recht geben. Auch der Einrichtungsstil ist... sagen wir, besonders.
Der Boden besteht aus einer Art Linoleum und erinnert eher an einen Schulflur, auf dem täglich hunderte Kinder ihre Wege trampeln.
Auch die Betten erwecken nicht so wirklich mein Vertrauen. Der typische Charme einer Jugendherberge. Einer alten Jugendherberge.
Und betrachtet man die Vorhänge, die aus einem verlassenen Gespensterhaus stammen könnten, wird man nicht gerade von einem heimischen Gefühl überschwemmt.

Aber darum geht es auf Klassenfahrt ja auch nicht. Die meiste Zeit werden wir draußen verbringen. Draußen in der Natur, in den Bergen.
Natürlich dort, wo die meisten Gefahren lauern.

„Wann sollen wir im Essensraum sein?"
Ich werfe einen Blick auf die Uhr, die über dem zerbrechlichen Tisch an der linken Wand hängt. „Jetzt", stelle ich fest und stehe vom Bett auf. Mit einem ziemlich lauten Knarren.
„Wehe, du drehst dich in der Nacht", warnt Anni mich scharf, wenn auch mit einer Prise Ironie.

Alex, der ein Einzelzimmer genießt, kommt in dem Moment auf den Flur, als Anni und ich an seinem Zimmer vorbeilaufen.
„Und, seid ihr zufrieden mit eurem Zimmer?", fragt er, während er seines abschließt.
Aus Anni kommt nur ein Brummen, welches nicht fehlinterpretiert werden kann.
„Ist ja nur für eine Woche." Lächelnd drückt er ihre Schulter. „Ich hätte ja mehr Angst davor, dass die Betreuer, die mit uns die Wanderungen machen sollen, nicht so gut drauf sind."
„Dann lass uns jetzt einen Zahn zulegen und wir werden es gleich erfahren", fordere ich mit Hinblick auf die knappe Zeit auf und laufe vor.

„Ich bin Astrid und das ist mein Kollege Pablo." Die Frau deutet auf den Mann, der neben ihr steht und vielleicht ein paar Jahre älter ist als sie. Ich würde sie auf etwa vierzig tippen.
Wie der Name des Mannes schon erahnen lässt, sieht er aus, als würde er aus dem Süden kommen.
„Ihr könnt sie aber auch gern Asda nennen, das ist ihr Spitzname", ergänzt er mit einem leichten Akzent.
Daraufhin fängt sie an zu lachen und wirft ihm einen verlegenen Blick zu.
„Wenn die beiden nicht was am Laufen haben", raunt Anni mir zu.
Nur schwer kann ich mir ein Kichern verkneifen, hatte ich in diesem Moment doch die gleichen Gedanken.

Sie räuspert sich kurz, ihre leichte Röte verschwindet langsam wieder und sie streicht sich eine Strähne hinters Ohr. „Jedenfalls wurdet ihr bei der Ankunft ja schon in zwei Gruppen geteilt. Ich bin für die zweite Gruppe verantwortlich, zu der nach meinem Kenntnisstand Herr Hetkamp und Frau Gerlach gehören."
Auch Anni und ich sind in der zweiten Gruppe.
„Zufrieden?", fragt Anni mich flüsternd.
Ich nicke. „Wirkt sympathisch." Ihr Auftreten verbreitet positive Stimmung.
Ihre blonden Haare fallen wellig über die Schultern und ihr Lächeln ist breit und wirkt ehrlich.
Ich bin guter Dinge, dass das angenehme Wanderungen werden.

Mit der Frage im Kopf, ob auch Alex das so sieht, drehe ich mich nach ihm um.
Hatte ich zumindest vor, denn finden kann ich ihn nicht mehr. Zwischen Frau Gerlach und dem Vater eines anderen Schülers ist ein Platz frei.

Der Platz, auf dem Alex saß.

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Ich will gar nicht wissen, wie lang es her ist, als zum letzten Mal zwischen zwei Kapiteln so ein kurzer Abstand lag. Aber hier ist es: das nächste Kapitel :)

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt