50 - Wenn es kommt, dann auf einmal

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"Nein." Ich schüttle meinen Kopf. "Nein. Das kann nicht sein. Das muss eine Verwechslung sein."
"Hey, Fine, guck mich mal an." Phil rüttelt an mir, doch ich kann nur an ihm vorbei an die Tür starren.
"Nein", wiederhole ich mich. "Er wollte doch eine Woche bleiben." Paulas Worte spielen sich auf Dauerschleife ab. "Er ist doch noch gar nicht auf dem Weg nach Hause gewesen", beharre ich auf meiner Meinung. Was heißt Meinung. Auf den Fakten, die eindeutig sind.
"Wir haben Alex von Toni erzählt", beginnt Paula zitternd. "Er wollte sich heute auf den Weg machen. Er..." Ein Schluchzen drängt sich an die Oberfläche und zwingt sie zu einem Abbruch.

"Nein!" Ich schreie. "Verdammt, nein!" Mit Kräften, die mir vorher gar nicht bekannt waren, wende ich mich aus Phils Griff. "Hört ihr euch zu, was ihr da sagt?" Trotz der altbekannten Schmerzen in meinem Hals kommt keine Träne. Sie stauen sich an, warten, bis sie alle in Sturzbächen über meine Wangen rinnen können. "Mit Toni muss alles okay sein. Und Alex hat sicher keinen Unfall gehabt!" Ich drücke mich achtlos an Paula vorbei, die aufgelöst zu Phil guckt.
"Josefine, wo willst du hin?", ruft Phil mir hinterher.
Ich drehe mich um. Sehe, wie er unentschlossen zwischen Paula und mir hin und her guckt.
"Weiß nicht", flüstere ich, weiche einem Pfleger aus, drehe mich von Phil weg und renne.
"Phil, lass sie", sagt Paula brüchig.
Er folgt mir nicht. Und das ist auch besser so.

Automatisch tragen meine Beine mich zu der Bank, auf der ich vor nicht mal einer Stunde Adrian angetroffen habe.
Dort war er derjenige, der anscheinend ein Problem hatte.
Und jetzt sitze ich hier mit einem Problem. Halt, korrigiere, mit zwei Problemen.

Wie gelähmt starre ich auf den Boden vor mir. Der Kreis, der durch Adrians Nervosität entstanden ist, ist noch immer in seinem vollen Umfang an Ort und Stelle.
Ich fühle mich, als wäre ich in diesem Kreis gefangen. Als würde dieser Kreis immer enger werden, mir bald alles nehmen. Familie, Freude, Frieden. Und zum Schluss auch die Luft. Er wird enger und enger und nimmt mir alles.

Alex hatte einen Unfall auf der Autobahn.
Paulas Worte schmerzen von Sekunde zu Sekunde mehr.
Franco fährt ins Krankenhaus, in das er eingeliefert wurde.
Ich fasse mir an den Kopf, kneife meine Augen zusammen.
Wenn es kommt, dann kommt alles auf einmal.
Mir blieb keine Zeit, über Toni nachzudenken, da kommt der nächste Punkt, der mir den Boden unter den Füßen wegzieht.
Keiner weiß über seine Verletzungen. Paula meinte, dass das Telefonat schnell von Papa abgebrochen wurde.

Verzweifelt suche ich den Schalter, der diese ganzen Stimmen in meinem Kopf einfach ausstellt. Mir Ruhe verschafft, die ich mir gerade sehnlichst wünsche.
Doch es gibt nichts zum Löschen. Weiterhin fühlt sich mein Kopf an, als wäre er im Schleudergang einer Waschmaschine gefangen.

Meine tiefen Atemzüge taugen nichts. Die Tränen kommen Stück für Stück raus. Lassen sich nicht mehr stoppen.
Und ich lasse sie laufen. Vielleicht muss das sein. Vielleicht muss das alles einfach mal sein.
Wenn ich meine Augen schließe, rasen Bilder an mir vorbei. Bilder von Toni, Szenen, an die ich noch nie zuvor gedacht hatte. An die ich nie im Leben hätte denken sollen.

Jemand läuft an mir vorbei, bleibt stehen oder entfernt sich.
Ich fühle mich nicht dazu fähig, meine Augen zu öffnen.
Zu laut sind meine Gedanken, zu laut rauscht meine Umgebung. Ich kann nichts mehr zuordnen.
Plötzlich ist jeglicher Sinn weg. Jeglicher Sinn aus allen Momenten.

Toni. Was ist mit ihm? Wo ist er?
Die Vorstellungen hinterlassen ein elendiges Drücken auf meinem Herzen, welches mir das Atmen erschwert.
Oder ist es das leise Schluchzen, welches ich nicht mehr unterdrücken kann?

Alex. Wie konnte das passieren? Wie ist er davongekommen?
Zum Druck auf meinem Herzen kommen Schmerzen in meinem Kopf dazu.

Hin- und hergerissen von allem. Gehetzt. Gestresst. Aufgewühlt. Ängstlich.
Am Ende. Am Ende meiner Nerven. Toni. Alex. Fehlt nur noch, dass Papa etwas passiert. Oder Paula, Phil, dem Baby.
Es gibt so viele Möglichkeiten, warum sollte sich das Leben denken, diese noch zu verschonen?
Es fühlt sich an, als würde ich in meinen Tränen ertrinken. Als würden mich diese Ungewissheit, diese Sorgen unter Wasser drücken und warten, bis ich elendig nach Luft japsen möchte und dabei quälend langsam ersticke.

"Manchmal ist das Leben ein richtiges Arschloch."
Ich schlucke, komme jedoch nicht gegen den Kloß an.
Kaum vorstellbar, dass es Adrian ist, der sich nun zu mir setzt.
Wir haben die Plätze getauscht, haben die Rollen gewechselt.
Alles in mir kämpft, damit ich meine Augen öffne und ihn angucke. Ihm antworte. Doch es geht nicht.
Die Schwärze kommt mir gerade beinahe tröstlich vor.
"Ich würde dir gern sagen, dass du darüber reden kannst. Dass das was bringt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Reden wirklich immer die richtige Lösung ist. Manchmal muss man vielleicht erstmal allein damit fertig werden."
Es verwundert mich, dass seine Worte dem ganzen Gewirr in meinem Kopf trotzen. Sie dringen zu mir durch, fahren durch meinen ganzen Körper.

So wie mein Klingelton. Ich schlage meine Augen auf und muss kurz gegen das grelle Licht blinzeln. Brennend protestieren meine Augen, halten den Tränenfluss eisern aufrecht.
Verschwommen sehe ich Phils Namen aufleuchten, der mich anruft.
Mein Kopf sagt, dass ich abnehmen soll. Mein Finger bewegt sich jedoch keinen Millimeter.
Und kaum versehe ich mich, nimmt Adrian mir mein Handy aus der Hand.
Zum ersten Mal seit er hier sitzt, gucke ich ihn an.
"Herr Funke, stopp, hier ist Adrian ... Ja, der Adrian ... Josefine sitzt neben mir ..." Er dreht seinen Kopf zu mir und mustert mich aufmerksam. "Sie sieht ziemlich aufgelöst aus, ja, kann man so sagen ... Mhm ... Nein, wirklich nicht ... Ja, die Zeit habe ich ... Sieht nicht so aus ... Ich passe auf, natürlich ... Ja ... Versprochen, ich ... Ja, ich bringe sie dann ... Tschüss."
Seufzend legt er auf. "Dein Phil ist ganz schön hartnäckig", schmunzelt er.
In anderen Fällen hätte ich ihm wohl lachend zugestimmt. Doch allein der Gedanke ans Lachen stößt mir bitter auf.

Schweigen umhüllt uns. Abgesehen von dieser ganzen Situation fühlt sich das Schweigen angenehm an.
"Möchtest du darüber reden?", fragt Adrian nach einer Weile leise.
Ich schüttle leicht meinen Kopf. "Noch nicht."
"Dann frage ich dich morgen nochmal."
"Möchtest du denn darüber reden?", stelle ich die Gegenfrage.
Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, meine Probleme mit seinem sichtlichen Problem zu begleichen. Wobei man da nichts begleichen kann. Und irgendwie hört sich das falsch an, Tonis spurloses Verschwinden als Problem zu sehen.
Das Wort Problem klingt zu sanft. Zu leicht. Ein Problem behebt man ganz einfach.
Aber das mit Toni ist nicht leicht zu beheben. Keiner weiß, wo er sich aufhält. Ob er in Gefahr ist oder mit Hintergrund abgehauen ist.
Durch meinen Krankenhausaufenthalt kann ich nicht mal einschätzen, ob zu Hause etwas Ausschlaggebendes vorgefallen ist. Ich bekomme schon lange kaum noch etwas mit.
Kann man Alex' Unfall nicht sogar als Kettenreaktion bezeichnen?
Wie man auch immer das alles bezeichnen mag - es zieht mich runter.

Seine Antwort kommt verzögert.
"Nein. Es ist... Dir geht es gerade wohl schlechter."
"Ich habe keine Ahnung, wie es mir geht", wende ich ein.
Beschissen? Jedenfalls das Gegenteil von gut. Ich fühle mich wie ein nervliches Wrack, doch gleichzeitig kann ich diese Neuigkeiten nicht verarbeiten.

Ich sammle Wörter zusammen, habe keine Ahnung, wo diese herkommen. Verzweifelt suche ich Lösungen unter ihnen. Antworten. Oder wenigstens Hinweise, Lösungsansätze.
Nichts und wieder nichts.
"Kennst du das?", frage ich schließlich mit bebender Stimme. "Kennst du das, wenn es sich anfühlt, als würde dich die Ungewissheit mit all ihren Kräften verschlingen? Wenn du keine Ahnung hast, was du denken sollst? Wenn nichts mehr einen Sinn ergibt? Du in einem Moment vor die eiskalte Tatsache gestellt wirst, in der nächsten Sekunde jedoch darüber lachen könntest, weil das alles so surreal klingt, so völlig absurd ist? Weil man immer denkt, dass man davon nicht betroffen sein wird?" Ich breche ab, probiere, mich zu sammeln.
Allerdings bin ich bereits verloren, bin wie ein Nichtschwimmer im tiefen Becken. Spüre den Boden unter meinen Füßen nicht mehr.
Toni ist weg. Einfach weg. Verschwunden. Keiner weiß etwas.
Genauso wenig ist über Alex' Zustand bekannt.

Nur Adrian ist es, der mich plötzlich von all dem retten möchte.
Seine Arme, die sich um meinen Körper legen, mich an sich drücken. Seine Nähe ist es, die mit ihrer letzten Kraft probiert, mich über Wasser zu halten.
Obwohl er selbst am Ende stehen muss.

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Ein spontanes Kapitel zum Abend. Ich hoffe, ihr freut euch :)

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt