59 - Auf wackeligen Beinen

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Das Geräusch der zusammenfahrenden Autos erzeugt ein Echo in meinem Kopf.
Alex und Papa reagieren schnell. Auch Paul und Marc rennen den beiden hinterher.
Nun habe ich Papas Rolle eingenommen und starre aus der Entfernung zur Straße, die nur spärlich vom orangenen Licht der Laternen beleuchtet wird.
Doch auch aus dieser Entfernung höre ich Papas undefinierbaren Laut, der mir durch den Körper fährt.
"Bleib liegen, verdammt!", brüllt er danach so aufgebracht, wie ich ihn erst selten erlebt habe. Zuletzt wegen Toni.
Alex' nächstes Wort, welches warnend durch die Dunkelheit hallt, gibt mir den Rest: "Toni!"
Und dann renne auch ich.

"Toni?" Ich atme unkontrolliert, sauge die Aufregung und Panik förmlich ein. "Toni!" Ich erhasche einen kurzen Blick zwischen Papa und Alex hinweg. Beide haben jeweils einen Arm fest im Griff. Einen Arm von Toni.
"Ey, was wird das hier?", bellt ein Mann und durchbricht jeden meiner Gedankengänge. Einer der Autofahrer ist ausgestiegen und läuft zu uns rüber. "Was bleibt dieser Affe einfach so stehen? Guckt euch mein Auto an!", blafft er Paul direkt ins Gesicht.
"Sie hätten den jungen Mann hier wohl einfach über den Haufen gefahren, was?", erwidert dieser, deutet auf Toni und zieht den ziemlich respektlosen Autofahrer zur Seite.
"Bringst du ihn in die Notaufnahme? Ich gucke nach dem anderen Fahrer, wird wohl ein Schock sein", höre ich Alex sagen.
Das ist alles zu viel für mich. Meine Beine werden immer weicher, ich fühle mich, als würde ich auf einem Seil balancieren. Jedes Wort führt zu einer größeren Verwirrung, mein Kopf kann das alles nicht genug aufnehmen.
Toni ist da? Aber er war doch so unerreichbar.
So nah und doch so fern, schießt es mir durch den Kopf, ehe ein Windstoß kommt, der mein Seil, auf dem ich mich bewege, zum Erbeben bringt. Unter mir ist nur Tiefe. Schwarze Leere, in die ich ungehindert stürze. Der Boden scheint mir unerreichbar.

"Josefine! Ey komm, mach jetzt nicht auch noch schlapp!" Jemand hämmert mir gegen die Wange. Zumindest fühlt es sich wie ein Hämmern an.
Brummend winde ich mich schwach in den Armen, in denen ich mich befinde.
"Hörst du mich?"
Ja, und er sollte mich nicht so anschreien.
Erneut dröhnt mir das Geräusch des Aufpralls durch meinen ganzen Kopf.
"Josefine!"
"Jaha", nuschle ich. Auf meinen Lidern liegt eine enorme Kraft, die es mir unmöglich macht, meine Augen ansatzweise zu öffnen.
"Du hörst mich?"
"Mh." Die Stimme, die vorher merkwürdig verzerrt war, lässt sich allmählich als Marc erkennen.
Der nasse Film, der noch immer auf den Straßen liegt, frisst sich langsam seinen Weg durch meine Hose. Unangenehm klebt sie sich an die Haut meiner Beine und lässt mich frösteln.
"Komm hoch. Kannst du stehen?" Marc macht Anstalten, mich nach oben zu ziehen.
Wie ein nasser Sack hänge ich schließlich in seinen Armen und finde kaum einen Halt auf dem Boden, der sich so anfühlt, als hätte er keinerlei feste Bestandteile. Also ist seine Frage somit auch beantwortet.

"Geht's bei euch?", fragt Alex ein paar Schritte von uns entfernt.
Das Bild vor meinen Augen dreht sich, als ich zu ihm gucke.
"Bestimmt", antworte ich schwach.
Alex' Seufzen zeigt seine Überzeugung. "Ich bringe sie dann mal rein." Mit diesen Worten übernimmt er mich. War ich wirklich so lange weg?

"Toni", fällt es mir wieder ein. Es ist, als würde mich ein Blitz durchfahren. Ich drehe mich aufgeregt zu Alex, der mich eher trägt, statt laufen lässt. "Was ist mit Toni?"
"Ruhig." Seine Hand tastet beim Gehen nach meinem Puls. "Du musst mal ein bisschen runterkommen."
Ich lache schrill auf.  "Runterkommen", äffe ich ihn nach. "Natürlich denke ich als erstes daran, Ruhe zu bewahren. Alex, was ist mit Toni?" Meine Stimme bebt.
"Er ist ziemlich schwach. Bis jetzt ist sein ganzer Zustand noch ziemlich unklar", erklärt er und weicht meinem Blick aus.
"Woher kam er überhaupt? Was war das?" In mir fliegt noch immer alles kreuz und quer. Und ich spüre, dass das Aufräumen eine nicht abzuschätzend lange Zeit brauchen wird.
"Fine", unterbindet Alex einen meiner weiteren Versuche, ihn mit Fragen zu durchlöchern, auf die eh noch keiner eine Antwort hat, "keiner weiß bis jetzt irgendwas. Spar dir deine Kräfte, du bist völlig am Ende."
"Ich bin gar nicht-"
"Doch, bist du. Ich kenne dich, stell dir vor, sehr gut. Und du bist mit deinen Nerven eigentlich schon über die Grenze hinausgeschossen", fährt er mir geradewegs in meinen jämmerlichen Protest.

Auch mit der größten Mühe kann ich meine Gedanken nicht ordnen.
Immer wieder nicke ich ein und lasse meinen Kopf auf Alex' Schulter fallen, bis ich wie von einem Stromschlag aufzucke und mir wieder bewusst wird, dass Toni da ist.
Ich schwebe zwischen Verzweiflung, unscharfen Gedankengängen und doch einer einzigen klaren Gewissheit, die wiederum von tausenden Fragen ausgeschmückt ist.
Mich würde es nicht wundern, wenn mein Gehirn inzwischen zerfleddert in meinem Schädel schwimmen würde.

"Du bist ziemlich müde, oder?", bemerkt Alex schmunzelnd, als ich mal wieder von seiner Schulter zucke.
Toni ist da. Er ist da. Einfach aufgetaucht. Wortwörtlich aus dem Nichts auf die Straße gerannt.
"Nein", lüge ich, wie man es nicht offensichtlicher machen könnte. "Das ist alles nur so unfassbar."
Alex legt einen Arm um mich und zieht mich zu sich ran.
Mit brennenden Augen lasse ich meinen Kopf wieder auf seine Schulter sinken.
Toni ist da. Immer wieder wiederhole ich diese Erkenntnis, als würde sie mir jeden Moment wegfliegen können. Als wäre sie wie ein Luftballon mit Helium befüllt, der mir in einer einzigen Unachtsamkeit einfach in den Himmel fliegt und für immer verschwindet.
Die Erkenntnis steht auf wackeligen Beinen und gleicht sich an. Wobei ich mich eher an diese Erkenntnis angleiche.

Nervös geht Papa in der Notaufnahme hin und her. Er kann nicht stillstehen. Sitzen wäre für ihn gerade wohl noch unmöglicher.
Ich bin Alex dankbar, dass er mir gerade einen Ruhepol bietet, sonst würde ich wohl auch eher ausrasten und durchdrehen.
In einem Moment ist mein Körper nur so von allen möglichen Gefühlen überflutet, im nächsten fühle ich mich jedoch einfach leer und ahnungslos.
Nur die stillen Wiederholungen in meinem Kopf helfen mir, mich an die Realität zu erinnern.

"Mach doch kurz die Augen zu", sagt Alex mit einem Seitenblick zu mir. "Du hast richtig rote Wangen."
Die bekomme ich oft, wenn ich ein gewisses Stadium der Müdigkeit erreicht habe.
"Wie lang dauern die Untersuchungen denn noch?"
Alex zuckt mit den Schultern. "Das ist ganz unterschiedlich."
Langsam sinkt mein Kopf zum erneuten Mal auf seine Schulter.
"Ich wecke dich spätestens, wenn es neue Erkenntnisse gibt", dringt es noch schwammig zu mir hindurch.

Wecken muss Alex mich nicht. Allein von Papas zittriger Frage, was denn nun mit Toni sei, werde ich wach.
Das Brennen in meinen Augen erlischt, als ich Charlotte sehe, die auf uns zukommt.
Hilflosigkeit würde ihren Ausdruck wohl am besten beschreiben.

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niemandin ist von einer längeren Pause wieder da und hat gestern einfach den besten Short rausgehauen, den ich jemals gelesen habe. Phil spielt dort die zweite Hauptrolle. Also falls ihr ihren neuesten Short '(58) Unerwartet' noch nicht gelesen habt, würde ich das an eurer Stelle sofort tun :)
(Ich glaube, sie mag mich nicht mehr, wenn sie das hier liest. Huch)

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt