62 - Ein Hass auf Zufälle

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"Geht's?", frage ich ziemlich nervös, während Anni sich noch immer einen abhustet.
Mit hochrotem Kopf nickt sie, das Japsen dabei macht das jedoch nicht ganz so glaubwürdig. "Geht schon", presst sie hervor und hustet erneut.
Argwöhnisch mustere ich sie, doch das Husten hört doch wieder relativ schnell auf.
"Alles okay?", fragt nun auch Mimi, dreht sich jedoch nach Annis Bestätigung schnell wieder weg.

Annis Blick mit den zusammengezogenen Augenbrauen sagt alles. Und ich setze zu einem Nicken an.
"Was zum Teufel", flüstert sie.
Alina ist währenddessen begeistert. "Das ist dein Freund? Wie heißt er denn?"
Mimi grinst. "Adrian. Oh ja, er ist richtig lieb und einfach der perfekte Freund."
Ich habe das Gefühl, mich zu verhören. Es gibt nicht nur einen Adrian auf dieser Welt, doch ich habe das Bild von ihm gesehen.
Vielleicht hat er sich deswegen gar nicht bei mir gemeldet, obwohl er meine Nummer hat. Hatte? Vielleicht wurde diese ja schon lange gelöscht.

Ich hätte nicht damit gerechnet. Sogar der Gedanke, ich würde Tim verzeihen, ist mir realistischer. Doch ich verspüre augenblicklich etwas wie Enttäuschung.
Aber Enttäuschung? Warum Enttäuschung? Nie wollte ich etwas von ihm. Überhaupt war er mir eher suspekt.
Die Antwort trifft mich ziemlich genau im Magen, der sich schmerzhaft zusammenzieht.
Adrian ist ein richtig netter Typ - also meistens. Und dazu sieht er vielleicht auch ganz gut aus. Auch wenn ich mir das nicht gern eingestehe.
Aber ich habe die letzten Tage doch kaum einen Gedanken an ihn verschwendet.

"Wie lange geht das schon zwischen euch?"
Mimi grinst. "Noch nicht lange. Eine Woche erst, also richtig frisch."
Eine Woche. Sagt ja gar nichts. Vielleicht ist das schneller wieder vorbei, als sie gucken kann.

Mir ist schleierhaft, woher meine Laune kommt. Klar, sie war seit gestern nicht wirklich prickelnd, aber jetzt hat sie den Höhepunkt erreicht.
Es sollte mich nicht wundern, dass Phil mich völlig besorgt anguckt, während ich mich neben ihm auf die Couch fallen lasse.
"War der Schultag nicht schön?"
Ironisch lächle ich ihn an. "Schule ist doch immer schön, diese Frage."
Phil zwickt mir in die Seite. "Was ist dann los? Irgendwas muss doch passiert sein."
"Nichts." Was eine glaubhafte Lüge. "Du bist doch Arzt."
Phil legt seinen Kopf schief. "Das ist möglich, ja. Worauf willst du hinaus?"
"Denkst du, dass ich wirklich schon gesund genug bin, um zur Schule zu gehen?"
Sein Lachen verrät alles.
"Schade, einen Versuch war es ja immerhin wert", seufze ich und stehe auf. "Hast du was gekocht?"
"Nee, der Koch hatte heute frei." Er folgt mir in die Küche. "Aber ich kann dir gern das Essen von gestern warm machen."
Sehr schön.

Nachdem ich mit Phil etwas gegessen habe, greift er meine Laune nochmal auf. Zu meinem Leidwesen.
"Irgendwas bedrückt dich doch. Du ziehst immer so ein Gesicht, wenn du etwas erfährst, was du gar nicht wissen willst."
Schwach hebe ich meine Schultern. "Musst du heute nicht arbeiten?", erwidere ich, statt ihm eine Antwort zu liefern.
"Na schön", Phil holt tief Luft, "du willst nicht. Ich kann dich ja nicht zwingen. Aber um deine Frage nicht unbeantwortet zu lassen - ich habe Nachtschicht."
In diesem Moment kommt jemand in die Küche.
Wie leise kann Paula bitte das Haus betreten? Bei den Männern hört man immer aus kilometerweiter Entfernung, dass jemand nach Hause kommt.
"Oh, ihr habt gerade gegessen?", stellt sie mit Blick auf den Tisch fest, ehe sie sich zu Phil beugt und ihm einen kurzen Kuss gibt.
"Da ist noch was übrig. Ich esse gern auch eine zweite Runde mit dir", grinst Phil.
Der perfekte Zeitpunkt, sich aus dem Staub zu machen.

Ich verstehe mich selbst nicht, aber ich kann Mimi kaum noch angucken. Ihr Grinsen, welches wirklich dauerhaft auf ihrem Gesicht liegt, wird wohl von einer einzigen Person ausgelöst sein. Dabei sollte mir das doch komplett egal sein, oder?
Ob sie seine ganze Geschichte weiß? Woher kennen die beiden sich überhaupt? Und was ist das bitte generell wieder für ein Zufall? Langsam aber sicher könnten die Zufälle wirklich mal nachlassen, davon hatte ich definitiv genug.
Zufälle sind mir nicht mehr geheuer.

"Er holt mich heute von der Schule ab", sagt sie mitten im dritten Block zu Alina.
Unser letzter Block.
Automatisch höre ich zu und schalte den Lehrer vor uns komplett aus.
"Hat er schon ein Auto?", kommt es interessiert von Alina zurück. Flüstern sollten die beiden wirklich nochmal lernen.
Mimi nickt entzückt. Und ich könnte kotzen. "Er ist zwanzig und arbeitet schon."
Mein imaginärer Würgereiz nimmt zu. Er ist noch nicht zwanzig!, würde ich am liebsten nach vorne brüllen.
Möchte sie vielleicht auch noch eine Lüge für seinen Beruf erfinden?
"Und wo arbeitet er?"
Jetzt bin ich gespannt.
Sie muss nicht überlegen. Mimi kann ihr aus dem Stegreif eine glatte Lüge auftischen. Zumindest würde keiner, der ihn nicht kennt, diese Lüge aufdecken können. "Er arbeitet in der Firma seiner Eltern, die er dann später komplett übernehmen wird. Also ein richtiger Geschäftsmann."
Entgeistert guckt Anni mich an. Und auch mir schwant, an wen Adrian da geraten ist.
Das hat er definitiv nicht verdient.

Keine zehn Minuten sind nach dem Gespräch vergangen, da hebt Anni ihre Hand.
"Anja?" Herr Gerber guckt sie auffordernd an.
"Könnte ich kurz an die frische Luft? Irgendwie habe ich totale Kopfschmerzen."
Herr Gerber würde in solchen Situationen niemals nein sagen. Er duldet generell sehr viel, was uns Schülern natürlich gefällt.
Wie schon geahnt, nickt er. "Josefine, würdest du mitgehen? Falls etwas passiert."
Bevor ich überhaupt etwas antworten kann, zieht Anni mich schon hoch. "Danke", richtet sie kurz an unseren Lehrer, ehe ich praktisch aus dem Raum gezogen werde.

"Was ist denn bei dir los?" Irritiert starre ich sie an, als sie mich auf dem Schulhof endlich freigelassen hat. Kopfschmerzen plagen sie definitiv nicht.
"Was soll das von der?"
Wow, woher kommt dieser aggressive Ton? Ich kenne Adrians ganze Geschichte. Anni habe ich nicht mal erzählt, dass er bei mir aufgetaucht ist. Eigentlich müsste ich doch dieses Mitleid mit ihm haben.
Zumal Anni ihn einfach nur vom Sehen kennt.
"Na ja, er wird im April zwanzig. Da kann man doch mal aufrunden", probiere ich, wenigstens diese Lüge schönzureden.
Anni schüttelt den Kopf. "Sie möchte einfach nur mit ihm prahlen. Adrian sieht verdammt gut aus. Nur blöd, dass er kein wohlhabender Mann ist, sondern noch in seiner Ausbildung zum Krankenpfleger steckt. Dabei ist dieser Beruf doch mit viel mehr Respekt zu betrachten. Warum lügt sie so über ihn?"

Was soll ich da erwidern? Ja, mich regt das alles auch auf. Zumal ich schätzen würde, dass Mimi Adrians komplette Geschichte nicht kennt.
Woher kennen die beiden sich überhaupt? Hat er nicht neulich erst gesagt, dass er gar keine Zeit für eine Freundin hat? Warum dann das ganze hier?
"Anni, mich macht das auch wütend", wütender als dich, wenn man das Gesamtpaket seines Lebens betrachtet, "aber tun können wir doch eh nichts."
Warum steigern wir uns gegenseitig in diese Situation? Es geht uns rein gar nichts an und außerdem ist Adrian ein an sich fremder Typ für uns.
Also für Anni.
Und für mich eigentlich auch.
Eigentlich.
Nur weiß ich seine Geschichte. Fremd bleibt er trotzdem.
Also eigentlich.

Ihr Blick verändert sich. Und das bringt alles zum Überkochen. Auch die angestauten Gefühle, die nichts mit dieser Situation am Hut haben, explodieren in mir.
Die folgenden Worte sprudeln nur so aus mir heraus, auch wenn ich weiß, dass Adrian diese Worte in keinster Weise verdient hat.
"Ich weiß nicht, wer von uns beiden in der Klinik lag. Ich würde mal auf meine Person tippen. Ich habe mich mit ihm abgeben müssen. Ich habe gemerkt, wie Adrian sich am meisten um seinen Arsch gekümmert hat. Wie er immer mit schlechter Laune ankam und seine Arbeit halbherzig gemacht hat."
Anni schüttelt den Kopf immer heftiger, doch ich lasse mich nicht beirren, kann mich ganz einfach nicht mehr stoppen. "Ich habe seine Launen und seine Art ertragen müssen. Er war viel zu sehr von sich selbst überzeugt und seine Selbstbezogenheit war nicht zu übersehen. Vielleicht hat er das alles ja auch verdient!"
Ich schlucke. Mein Herz zieht sich bei diesen Worten zusammen. Das stimmt nicht.
Möchte ich mir das gerade alles selbst irgendwie einreden, um mir diese Erkenntnisse über Mimi leichter zu gestalten?
Ich gönne Adrian nur das beste. Er hat nur das beste verdient.
Und Mimi gehört mit ihren Aussagen definitiv nicht in diese Rubrik.

Annis Augen werden immer größer.
"Äh..." Sie läuft rot an. "Fine-"
"Ja, du warst doch eh nur von seinem Aussehen verblendet!"
Sie schüttelt den Kopf. "Nein, du..."
Hinter mir räuspert dich jemand. Ich zucke unter diesem durchschneidenden Geräusch zusammen und fahre langsam herum.
Es trifft mich wie ein Eimer voll kaltem Wasser. Die beschönigte Variante.
"Das war ziemlich ... interessant? Ich wusste nicht, dass du so über mich denkst. Aber täuschen kann man sich ja immer, schätze ich." Adrian legt seinen Kopf schief und mustert mich. "Was ein Zufall, dass du auch auf diese Schule gehst", stellt er schließlich schief grinsend fest.

ICH HASSE ZUFÄLLE!

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt