18 - Lange bekannt

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Interessiert gucke ich auf den Dampf, der stetig aus meiner Tasse steigt und somit die Wärme der heißen Schokolade untermalt. Aus Papas Tasse dampft es ebenfalls, nur dass es dort Kaffee ist. Würde ich jetzt einen Schluck nehmen, dann würde ich mich verbrennen. Würde ich pusten, dann würde...
"Na dann, leg los", holt Papa mich aus meinen absolut unnötigen Gedanken, die nur das folgende Prozedere verdrängen wollten. Als würden sie das Unvermeidliche abwenden können.
Allein der Fakt, dass wir beide am Tisch sitzen, zeigt die Härte des Gesprächs.
Vielleicht steigere ich mich da nun auch ein wenig rein. Härte. Das klingt so, als würde Papa gleich aus der Haut fahren und mich anschreien. Dabei schreit Papa uns prinzipiell nicht an, das weiß ich.

Das Geräusch einer abgestellten Tasse lenkt meine Aufmerksamkeit neben Papa. Alex ist dazugekommen. Stimmt, ihn gibt es ja auch noch.
"Was ist mit diesem Simon, dass du uns zweimal anlügst?", beginnt Papa.
Überrascht gucke ich zu ihm. "Wie jetzt?" Woher weiß er, dass es hier wieder um Simon geht?
Papa lächelt mich an. "Guck nicht so, als würde ich dir gleich Hausarrest auf Lebenszeit geben. Du weißt, dass es hier im Haus keine Strafen gibt."
Ich nicke, doch diese Bewegung fließt schnell in ein Kopfschütteln. "Ja. Also nein, das ist es nicht. Woher weißt du, dass es wieder um Simon geht?"
Papa hebt eine Augenbraue, grinst mich dennoch unaufhörlich an. "Du bist meine Tochter. Und ich habe keine Ahnung, wie oft wir dir noch sagen müssen, dass du nicht lügen kannst."
"Ehrlich, langsam kannst du damit aufhören", pflichtet Alex ihm bei, wobei mir hier der Eindruck kommt, dass Alex einfach nur etwas sagen wollte, um nicht unnötig daneben zu sitzen.
Ich öffne meinen Mund, doch jedes Wort scheint sich verzweifelt an meine Zunge zu krallen, um nicht an die Freiheit zu gelangen.
Alex lacht auf. "Mund zu, Luft holen, von vorne. Du wirkst gerade ziemlich ängstlich."
Ertappt. Ich stütze meinen Kopf auf meine Handballen ab und richte meinen Blick gen Tischplatte. Ohne es zu sehen, weiß ich, dass mein Gesicht rot anläuft. Trotz der allgemein kälteren Luft im Zimmer wird mir heiß. "Es tut mir leid. Ich wollte gar nicht lügen, aber..." Meine Stimme bricht ab und ich brauche Mühe, meinen Tränen keinen Freifahrtschein zu geben. Ich fühle mich beinahe wie ein Kleinkind, doch gerade breiten sich alle Folgen spürbar in meinem Kopf aus, die irgendwann durch das Lügen eintreten könnten.
In meinem Kopf setzt ein unangenehmes Drücken ein, was mich dazu verleitet, mir die Schläfen zu reiben.
"Geht es dir gut?", kommt es sofort alarmiert von Alex.
Ich nicke und widerstehe der Versuchung, meine Augen zusammenzukneifen. Das würde nur meinen Tränen helfen.

Papa scheint das hier alles zu langsam zu laufen. "Fine, ich möchte, dass du weißt, dass hier keiner von dir enttäuscht ist. Oder dass wir dadurch eine gewisse Skepsis deinen Aussagen gegenüber entwickeln. Ich würde nur gern die Gründe für deine Lügen erfahren. Dir ist keiner böse, du brauchst davor keine Angst zu haben."
Meine Lunge bettelt darum, die angehaltene Luft nach draußen befördern zu dürfen. Und das tue ich jetzt auch. Zitternd, geräuschvoll. Was Papa und Alex wieder auflachen lässt.
"Toni kennt Simon", beginne ich leise, ohne einen der beiden anzugucken. Jetzt sage ich wirklich die Wahrheit. "Und er hat mir eben gedroht, mit dir zu reden, wenn ich weiter mit ihm Kontakt habe." Ich gucke Papa kurz an, der verständnisvoll nickt. Verständnis? Wie dem auch sei, ich probiere, unbeirrt fortzufahren. "Jedenfalls hat er mich dann auf die Party eingeladen. Und ich habe Anni vorgeschoben, damit Toni nicht ankommt. Ich wollte mir eben ein eigenes Bild von Simon machen. Und ich habe auch ein ganz anderes als Toni."
"Wie kam es dann dazu, dass Anni da war?", möchte Alex wissen. Aber es war keine forschende Frage, die mein schlechtes Gewissen nach oben treiben sollte, sondern mit ehrlichem Interesse gestellt.
"Reiner Zufall. Simon ist mit Daniel befreundet, Annis Freund. Dann kommt halt eins zum anderen."

Papa nimmt einen Schluck aus seiner Tasse, bevor er das Gespräch in die nächste Runde lenkt. "Toni hat uns übrigens von Simon erzählt. Deine Lüge war also umsonst, wenn man das so sieht."
Ich reiße meine Augen auf. "Euch?"
Alex nickt. "Ja, uns allen. Phil, Franco, Paula und mir. Aber wir waren alle mal in deinem Alter und wir wissen, dass du deine Finger von diesem Zeug lässt. Daran siehst du, dass wir dir trotzdem noch vertrauen, auch wenn du das mit der Wahrheit ja nicht zum ersten Mal nicht ganz so eng genommen hast."
"Und wofür jetzt hier das ganze Drama?", frage ich ziemlich überrascht. Ein Teil der Anspannung verschwindet, doch ein anderer lädt seine Spannung etwas mehr auf.
"Wir wollten dir damit eher helfen, damit du dir dein schlechtes Gewissen von der Seele reden kannst", antwortet Papa ziemlich unberührt.
Mein Mund klappt heute nicht zum ersten Mal auf. Mit solch einer Wendung hätte ich im Leben nicht gerechnet.

****

Die feinen Schneeflocken kollidieren unsanft mit der Fensterscheibe und schmelzen sofort dahin.
Ich lockere meinen Schal etwas. Mein Bein drückt sich gegen die warme Heizung und löst sich erst, als sich die Wärme bis zu einem Brennen anstaut. Langsam werden meine Wangen heiß. Ich beschließe, meinen Schal ganz abzumachen. Kurz darauf öffne ich auch meine Strickjacke und bin kurz davor, mir auch diese vom Leib zu reißen.
Sehnsüchtig starre ich auf den Regulierer der Heizung, weiß jedoch genau, dass ich diesen keinen Millimeter bewegen kann.
"Josefine?"
Ich fahre ruckartig aus meinen Gedanken und löse meinen Blick nur schwerfällig von der Fensterscheibe, als würden sie sich eigentlich magnetisch anziehen.
Frau Meier jedoch hat anscheinend den gleichen Pol wie ich, denn ich kann mich nur schwer auf ihre Gestalt konzentrieren.
"Kannst du bitte den Text unter der ersten Aufgabe vorlesen?"
Hektisch suchen meine Augen den Tisch ab. Welches Blatt, welche Aufgabe?
Anni ist so nett und schiebt mir ihr Blatt zu, auf dem der Text unter der wahrscheinlich ersten Aufgabe pink markiert ist.
Ein flüchtiger Blick, der ein stummes Danke an sie richtet, streift sie, bevor ich mich an den Text mache.
"Die Inter..." Habe ich das erste Wort noch kratzig hervorbekommen, versagt meine Stimme schon beim zweiten gänzlich. Ich räuspere mich, was mir einen brennenden Schmerz im Hals verpasst. "Die Interpretation literarischer Texte..." Juckend protestiert mein Hals und schenkt mir ein ordentliches Husten.
"Okay, das wird wohl nichts mehr", sieht Frau Meier ein. "Anni, mach du bitte weiter."

Wenn ich wollte, könnte ich meine Zähne klappern lassen. Doch das würde den Unterricht stören. Denn leise wäre das nicht.
Ich lege meine Hände zwischen Stuhl und Beine, doch wärmer werden sie nicht. Ich ziehe meinen Schal fester, schließe meine Strickjacke bis zum Kinn.
Sehnsüchtig starre ich auf den Regulierer der Heizung, weiß jedoch genau, dass ich diesen keinen Millimeter bewegen kann. So gern ich ihn im letzten Block noch auf null gestellt hätte, würde ich jetzt alles dafür geben, dass er auf fünf steht.

Das Klingeln kündigt die zweite Pause an. Während alle anderen übermotiviert aufspringen, bleibe ich sitzen.
Neben diesen drückenden Kopfschmerzen überfällt mich eine erneute Hitzewelle. Schal aus, Strickjacke auf.
"Du siehst echt nicht gut aus", stellt Anni fest und mustert mich besorgt.
"Mir geht's super", krächze ich. Unterstreiche diese durchaus sehr glaubhafte Aussage noch mit einem Husten, um die Wahrheit dahinter zu  betonen.
Anni schnaubt verächtlich. "Mach uns alle krank, genau, das freut uns sehr."
Mit Schwung stehe ich auf, um ihr zu  beweisen, wie fit ich bin. Doch mit dem gleichen Schwung falle ich auch zurück auf meinen Stuhl. "Können die hier mal einen Gang runterschalten? Das Karussell dreht sich zu schnell", scherze ich heiser.
"Josefine", sagt Anni streng. Als wäre sie meine Mutter. Wobei - sind Mütter so? Immerhin habe ich nie eine gehabt. "Du gehörst sofort ins Bett. Lass dich abmelden."
Ich wage einen neuen Versuch und stehe auf. Schwankend halte ich mich am Tisch fest und probiere, mich auf meinen weichen Beinen zu halten.
"Vergiss es. Du lässt dich abholen", berichtigt sie ihre eigene Aussage und drückt mich zurück auf den Stuhl.
Ich schicke ein großes, sehr großes, imaginäres Danke an Phil, der so großzügig war, sich diese tolle Erkältung mit mir zu teilen.

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Eigentlich wollte ich mich gestern schon für die 1k Votes bedanken, habe das aber irgendwie total verpeilt. Also hier mein großes großes Dankeschön an euch, das ist einfach so viel, das überfordert mich ehrlich :)

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt